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Michail Bakunin
Bourgeoisiesozialismus
... Dieser Marxische Gedanke ist ausdrücklich
entwickelt in dem famosen Manifest der deutschen Kommunisten, 1848 von den
Herren Marx und Engels redigiert und veröffentlicht. Es ist die Idee der
Befreiung des Proletariats und der Organisation der Arbeit durch den Staat. Es
scheint, daß auf dem Haager Kongreß Herr Engels, von dem abscheulichen Eindruck
der Vorlesung einiger Seiten dieses Manifests erschreckt, sich zu erklären
beeilte, das sei ein veraltetes Dokument, eine von ihnen selbst aufgegebene
Theorie. Wenn er dies sagte, war er unaufrichtig; denn unmittelbar vor dem
Kongreß grade haben sich die Marxianer bemüht, dieses Dokument in allen Ländern
zu verbreiten. Es ist buchstäblich wiedergegeben, mit all seinen Hauptzügen, in
dem Programm der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Der Hauptpunkt,
der sich gleichfalls in dem von Herrn Marx 1864 im Namen des provisorischen
Generalrats redigierten Manifest wiederfindet und der von dem Genfer Kongreß von
1886 aus dem Programm der Internationalen eliminiert wurde, ist die Eroberung
der politischen Macht durch die Arbeiterklasse.
Man begreift, daß so unentbehrliche Männer, wie die Herren Marx und Engels,
Anhänger eines Programms sind, das durch Weihe und Anpreisen der politischen
Macht jedem Ehrgeiz die Tür öffnet. Da es eine politische Macht geben wird, wird
es unvermeidlich Untertanen geben, die zwar republikanisch als Bürger
verkleidet, nichtsdestoweniger Untertanen sind und als solche gezwungen sein
werden, zu gehorchen, weil ohne Gehorsam keine Macht möglich ist. Man wird mir
den Einwurf machen, daß sie nicht Menschen, sondern von ihnen selbst gemachten
Gesetzen gehorchen werden, worauf ich erwidere, daß jeder weiß, wie in den
demokratischsten, freiesten, aber politisch regierten Ländern das Volk die
Gesetze macht, und was sein Gehorsam gegen diese Gesetze bedeutet. Wer nicht so
voreingenommen ist, Fiktionen für die Wirklichkeit zu nehmen, muß bald erkennen,
daß selbst in diesen Ländern das Volk nicht wirklich von ihm selbst gemachten
Gesetzen gehorcht, sondern in seinem Namen gemachten Gesetzen, denen zu
gehorchen für das Volk stets nur Unterwerfung unter die Willkür einer
bevormundenden und regierenden Minderheit bedeutet oder, was das gleiche besagt,
frei ein Sklave zu sein. Ein anderer Ausdruck in diesem Programm ist uns
revolutionären Anarchisten, die wir offen die vollständige Befreiung des Volkes
wollen, tief antipathisch: daß das Proletariat, die Welt der Arbeiter als
Klasse, nicht als Masse, hingestellt wird. Wissen Sie, was das bedeutet? Nichts
mehr oder weniger als eine neue Aristokratie, die der Fabriks- und der
städtischen Arbeiter mit Ausschluß der das Landproletariat bildenden Millionen,
die nach den Erwartungen der Herren Sozialdemokraten Deutschlands die
eigentlichen Untertanen in ihrem großen sogenannten Volksstaat bilden würden.
Klasse, Macht, Staat sind drei untrennbare Begriffe, deren jeder mit
Notwendigkeit die beiden anderen unterstellt, und die sich endgültig in den
Worten zusammenfassen: politische Unterjochung und ökonomische Ausbeutung der
Massen.
Die Marxianer denken, daß, so wie im achtzehnten Jahrhundert die Bourgeoisklasse
die Adelsklasse entthront hatte, um ihren Platz einzunehmen und sie langsam in
sich aufzunehmen, um die Beherrschung und Ausbeutung der Arbeiter von Stadt und
Land mit ihr zu teilen, das städtische Proletariat heute berufen ist, die
Bourgeoisklasse zu entthronen, zu absorbieren und mit ihr die Beherrschung und
Ausbeutung des Landproletariats zu teilen, dieses letzten Paria der Geschichte,
worauf diesem vorbehalten bleibt, sich später zu empören und alle Klassen zu
zerstören, alle Beherrschungen, jede Macht, mit einem Wort: den Staat. Sie
verwerfen also nicht unbedingt unser Programm. Sie werfen uns nur vor, den
langsamen Gang der Geschichte beeilen zu wollen und das positive Gesetz
allmählicher Entwicklung zu verkennen. Nachdem sie den ganz deutschen Mut
gehabt, in ihren der philosophischen Analyse der Vergangenheit gewidmeten Werken
zu verkünden, daß die Niederlage der Bauernaufstände Deutschlands und der Sieg
der despotischen Staaten im sechzehnten Jahrhundert einen großen revolutionären
Fortschritt gebildet hatte, haben sie heute den Mut, sich mit der Errichtung
eines neuen Despotismus zum angeblichen Nutzen der Arbeiter der Städte und zum
Schaden der Landarbeiter zu begnügen.
Das ist immer dasselbe deutsche Temperament und dieselbe Logik, die sie direkt
und unvermeidlich zu dem, was wir Bourgeoisiesozialismus nennen, führen und zum
Abschluß eines neuen politischen Pakts zwischen der radikalen oder radikal zu
werden gezwungenen Bourgeoisie und der intelligenten, respektablen, d. h.
gebührend verspießerten Minderheit des städtischen Proletariats, mit Ausschluß
und zum Schaden der Masse des ländlichen und auch des städtischen Proletariats.
Dies ist der wahre Sinn der Arbeiterkandidaturen zu den Parlamenten der
bestehenden Staaten und der Eroberung der politischen Macht durch die
Arbeiterklasse. Denn ist es nicht selbst vom Standpunkt des städtischen
Proletariats, zu dessen ausschließlichem Vorteil man sich der politischen Macht
bemächtigen will, klar, daß die volkstümliche Art dieser Macht immer nur eine
Fiktion sein wird? Augenscheinlich können unmöglich einige hundert- oder selbst
zehntausende, ja selbst nur einige tausend Männer diese Gewalt wirklich ausüben.
Sie müßten dies unbedingt durch Stellvertretung tun, das heißt, diese Macht
einer von ihnen zu ihrer Vertretung und Regierung gewählten Gruppe Menschen
anvertrauen, wodurch sie unvermeidlich in alle Lügen und alle Knechtschaft des
Repräsentativ- oder Bourgeoissystems zurückfallen würden. Nach einem kurzen
Augenblick der Freiheit oder revolutionärer Orgie als Bürger eines neuen Staates
würden sie als Sklaven erwachen, Spielzeug und Opfer neuer Ehrgeiziger. ...
Marx ... zieht nur die einzige ökonomische Frage in Betracht und sagt sich, daß
die vorgeschrittensten und daher zu einer sozialen Revolution fähigsten die
sind, in welchen die moderne kapitalistische Produktion ihren höchsten
Entwicklungsgrad erreicht hat. Diese Länder sind, mit Ausschluß aller andern,
die zivilisierten Länder und die einzig berufenen, diese Revolution zu beginnen
und zu leiten. Diese Revolution wird in der allmählichen oder gewaltsamen
Expropriation der gegenwärtigen Grundbesitzer und Kapitalisten und der Aneignung
alles Grund und Bodens und alles Kapitals durch den Staat bestehen, der zur
Erfüllung seiner großen ökonomischen und politischen Mission natürlich sehr
mächtig und sehr stark zentralisiert sein muß. Der Staat wird den Ackerbau
verwalten und leiten durch die von ihm ernannten Ingenieure, welche Armeen von
Landarbeitern, die für diese Kultur organisiert und gedrillt sind, kommandieren.
Zugleich wird er auf den Trümmern aller bestehenden Banken eine einzige Bank
errichten, welche die ganze Arbeit und den Handel der Nation mit Betriebsmitteln
versieht.
Man begreift, daß auf den ersten Blick ein wenigstens dem Anschein nach so
einfacher Organisationsplan auf die Einbildungskraft von Arbeitern, die mehr
nach Gerechtigkeit und Gleichheit als nach Freiheit begierig sind, verführerisch
wirken kann, und daß sie sich törichterweise einbilden, daß diese beiden ohne
Freiheit bestehen könnten, als ob man zur Erringung der Gerechtigkeit und
Freiheit sich auf jemand andern verlassen könnte und vor allem auf die
Regierenden, selbst wenn sie sich als vom Volk gewählt und beaufsichtigt
bezeichnen! Dies wäre in Wirklichkeit für das Proletariat ein Kasernenregime,
bei dem die einförmig gemachte Masse der Arbeiter und Arbeiterinnen beim Schlag
der Trommel aufwachen, einschlafen, arbeiten und leben würde, während es für die
Geschickten und Gelehrten ein Privileg zu regieren wäre. ...
Die soziale Revolution, wie die lateinischen und slavischen Arbeiter sich
dieselbe vorstellen und sie wünschen und erhoffen, ist unendlich weiter als die
ihnen von dem deutschen oder Marxischen Programm versprochene. Es handelt sich
für sie nicht um eine knickerhaft bemessene, nur in langen Verfallfristen zu
verwirklichende Befreiung der Arbeiterklasse, sondern um die vollständige und
wirkliche Befreiung des ganzen Proletariats nicht nur einiger Länder, sondern
aller Nationen, der zivilisierten und der nichtzivilisierten, da die neue, offen
volksmäßige Zivilisation mit dieser Tat universeller Befreiung beginnen soll.
Und das erste Wort dieser Befreiung kann nur die Freiheit sein, nicht diese
politische, bourgeoise Freiheit, die von Herrn Marx und seinen Anhängern so sehr
gepriesen und empfohlen wird als vorhergehendes Ziel der Eroberung, sondern
diese große menschliche Freiheit, die durch Zerstörung aller dogmatischen,
metaphysischen, politischen und juridischen Ketten, die heute die Welt belasten,
der ganzen Welt, den Kollektivitäten wie den Einzelnen, die volle Autonomie
ihrer Bewegungen und Entwicklungen zurückgeben wird, indem sie ein für allemal
von allen Inspektoren, Leitern und Vormündern befreit werden.
Das zweite Wort dieser Befreiung ist die Solidarität, nicht die Marxische, von
oben nach unten von irgendeiner Regierung organisierte, die den Volksmassen
durch List oder Gewalt aufgelegt wird, nicht die Solidarität aller, die die
Verneinung der Freiheit jedes einzelnen ist und dadurch zur Lüge, zur Fiktion
wird, deren wirklicher Untergrund die Knechtschaft ist, -sondern diejenige
Solidarität, welche im Gegenteil die Bestätigung und Verwirklichung jeder
Freiheit ist und ihren Ausgang nicht von irgendeinem politischen Gesetz nimmt,
sondern von der eigenen kollektiven Art des Menschen, gemäß welcher kein Mensch
frei ist, wenn nicht alle Menschen um ihn, die auch nur den geringsten direkten
oder indirekten Einfluß auf sein Leben ausüben, es auch sind. Diese Wahrheit
findet sich auf großartige Weise ausgedrückt in der von Robespierre redigierten
Erklärung der Menschenrechte, welche verkündet, daß die Knechtschaft der letzten
Menschen die Knechtschaft aller bedeutet.
Die von uns verlangte Solidarität ist weit davon entfernt, das Resultat einer
künstlichen oder autoritären Organisation sein zu sollen und kann nur das
spontane Produkt des ökonomischen und moralischen sozialen Lebens sein, das
Resultat der freien Föderation der gemeinsamen Interessen, Aspirationen und
Tendenzen. Sie hat als wesentliche Grundlagen die Gleichheit, die kollektive
Arbeit, für jeden nicht durch die Gewalt der Gesetze, sondern durch die Macht
der Dinge obligatorisch geworden, und das Kollektiveigentum, - als führendes
Licht die Erfahrung, das heißt die Praxis des kollektiven Lebens, und die
Wissenschaft, - und als Endzweck die Konstituierung der Menschheit, folglich den
Ruin aller Staaten.
Entnommen von Anarchismus.at
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