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Karl Gültig ist tot
Er verstarb in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1992 nach kurzer, heftiger
Krankheit. Es gilt Abschied zu nehmen von einem Menschen, der sich wie leider zu
wenige seiner Generation lebenslang für ein freiheitliches und humanes
miteinander unter den Menschen einsetzte. Trotz vieler erlittener Enttäuschungen
hielt er unbeirrt an seiner Utopie einer herrschaftsfreien und sozial gerechten
Gesellschaft fest. Selbst seine unmittelbaren Erfahrungen mit dem
Nationalsozialismus – Diktatur, Niederschlagung der Arbeiterbewegung, Haft und
russische Kriegsgefangenschaft – veranlassten ihn nicht dazu, von der einmal als
richtig erkannten Notwendigkeit abzusehen, Kapitalismus und Staat durch eine von
menschlichem miteinander, freier Vereinbarung und gegenseitiger Hilfe geprägten
Gemeinschaftsordnung zu ersetzen. Mit Karl Gültig verstarb wiederum ein
Angehöriger aus den zunehmend gelichteten Reihen libertärer ArbeiterInnen der
20er und 30er Jahre.
Geboren am 20.11.1906 in Offenbach am Mein (Bürgel), geriet Karl Gültig schon
als Jugendlicher mit der Arbeiterbewegung in Berührung. Zunächst Mitglied der
„Kommunistischen Jugend“ (KJ) innerhalb der KPD, lernte er 1923 Georg Usinger
(1900-1990), Mitbegründer der Offenbacher Ortsgruppe der „Freien Arbeiter Union
Deutschlands“ (FAUD), kennen. Durch ihn gelangte er in Kontakt mit
anarchosyndikalistischen Kreisen und betätigte sich seit Mitte der 20er Jahre
vor allem in der anarchosyndikalistischen Jugendorganisation
„Syndikalistisch-Anarchistische Jugend Deutschlands (SAJD). Daneben engagierte
er sich auch in der atheistischen und föderalistischen Gemeinschaft
Proletarischer Feidenker. Die praktische Wirkung der Offenbacher libertären
Bewegung umfaßte vor allem öffentliche Aufklärung und Bewußtseinsbildung:
wöchentliche Gruppenzusammenkünfte, öffentliche Versammlungen, Lesungen,
Vorträge (Rudolf Rocker, Emma Goldman, Augustin Souchy, Erich Mühsam, Theodor
Plievier), Herausgabe der Zeitschrift „Junge Anarchisten. Organ der
Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“, Antimilitarismus,
Kampagnen (z.B. zur Verhinderung des Todesurteils gegen Sacco und Vanzetti).
Daneben bestanden enge Verbindungen zu anarchosyndikalistischen Organisationen
in Darmstadt (Kontakt: Gustav Doster), Frankfurt am Main (Anni und Georg Hepp),
Mannheim (Karl Schild), Ludwigshafen, Münster und Wiesbaden. Dabei schuf sich
der gelernte Schreiner und Dachdecker Karl Gültig rasch einen Namen als
geschätzter und begabter Debattenredner. So nutzte er jede Gelegenheit zum
politischen Disput mit Menschen unterschiedlicher Weltanschauung: Kommunisten,
Sozialdemokraten, Geistliche – sogar auf Versammlungen der aufkommenden
Nazi-Bewegung zu Anfang der 30er Jahre erhob er seine Stimme.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete auch für die
anarchosyndikalistische Bewegung im Rhein-Main-Gebiet eine deutliche Zäsur.
Organisierte Widerstandsaktionen gegen die NS-Diktatur nach 1933, an denen sich
auch Karl Gültig beteiligte, gelangten nicht über Fluchthilfe, illegalen
Zeitschriftenvertreib und einige geheime Zusammenkünfte hinaus. Der im Sommer
vor dem Volksgerichtshof in Darmstadt angestrengte Prozeß gegen sieben
Angeklagte wegen organisierter Widerstandstätigkeit der verbotenen FAUD in
Südwestdeutschland (Anni und Georg Hepp, Karl Schild u.a.) endete mit hohen
Zuchthausstrafen. Karl Gültig hatte Glück: Anfang 1935 verhaftet, erlitt er nur
wenige Wochen Freiheitsentzug. Weil ihn niemand verriet, und ihm daher nichts
Konkretes nachgewiesen werden konnte, wurde er schließlich freigesprochen. Nach
seiner Rückkehr aus jahrelanger russischer Kriegsgefangenschaft in Karaganda
(Kasachstan) Ende 1949 – dort arbeitete er als Berg- und Bauarbeiter und wirkte
mit im dortigen, um politische Aufklärung bemühten Antifa-Komitee -, trat er
Anfang der 50er Jahre der KPD (später DKP) und der „Vereinigung der Verfolgten
des Naziregimes“ (VVN) bei. Organisatorische Zusammenhänge unter deutschen
AnarchistInnen existierten damals kaum. In seinem Herzen blieb Karl Gültig
allerdings stets ein libertärer. Seit den 50er Jahren engagierte er sich in der
Ostermarschbewegung. Die weltweite, vor allem studentische Jugendrevolte Mitte
der 60er Jahre begleitete er mit hoffnungsfroher Offenheit. Auch an den
sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ der letzten zwanzig Jahre nahm er
lebhaften Anteil. Sein aufgeschlossener Humanismus bewahrte ihn vor
Engstirnigkeit und Dogmatismus.
Seitdem ich ihn und seine Frau Elise zusammen mit einigen Freunden Anfang 1988
kennenlernte, regte uns Karl Gültig bei allen Besuchen durch seinen
unverbrauchten Optimismus an. Bis zuletzt legte er besonderen Wert auf
intensiven Kontakt zur Jugend. Bedauerlicherweise fand die Begegnung mit ihm wie
auch mit anderen „großelterlichen“ Libertären viele Jahre zu spät satt. Auch
wenn ihm mit zunehmendem Alter bewusst war, dass er selbst wohl nicht mehr die
herrschaftslose und freiheitliche Gemeinschaft erleben werde, ermutigte er seine
GesprächspartnerInnen, in diesem Streben fortzufahren. So bezeugte uns Karl
Gültig, gerade aufgrund seiner lebensbiographischen Erfahrungen, dass es darauf
ankommt, sich weder von der bestehenden Machtordnung noch von dem subjektiven
Gefühl eigener, vermeintlicher Machtlosigkeit entmutigen zu lassen.
Siegbert Wolf
Aus: Schwarzer Faden, Heft 2 (1992)
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