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Helge Döhring
Ansichten zu Rocker
Wir sprachen für die DA mit H. Döhring -
einem Aktiven der Bremer Lokalföderation der FAU-IAA, der vor kurzem eine
Broschüre zu Rudolf Rockers Werk “Nationalismus und Kultur” veröffentlicht hat.
Die Broschüre ist unter dem Titel “Der Kampf der Kulturen gegen Macht und Staat
in der Geschichte der Menschheit - Eine Ausarbeitung zu Rudolf Rockers Werk
‘Nationalismus und Kultur’” erschienen und kann u.a. bei FAU-MAT bestellt
werden. Da Rocker und seine theoretischen wie praktischen Handlungen ein
wichtiger Teil der anarcho-syndikalistischen Bewegung waren und auch heute noch
viele Anregungen und Grundsätzlichkeiten bieten, haben wir H. mit den
Standpunkten der Frankfurter Mittwochsgruppe konfrontiert, die in der Zeitung “Graswurzelrevolution”(GWR)
Nr. 171-173 vom Dezember 1992 einen längeren Artikel zu Rockers “Nationalismus
und Kultur” veröffentlicht hatte. Den Beitrag der Mittwochsgruppe als
Interview-Gegenstand haben wir gewählt, weil er - obwohl bereits 1992 erschienen
-, nach unserer Kenntnis die jüngste, ausführlichere Besprechung des Buches
darstellt.
Viel Vergnügen mit diesem Interview.
? Der Aussage der Mittwochsgruppe (Frankfurt/M.) nach werde Kultur in Rockers
Darstellung “zum besonderen Ausdruck des einzelnen Individuums”, dem auf der
“Basis von Rockers Überlegungen ein ’anarchistisches’ Kulturverständnis”
gegenübergestellt werden könne, im welchem “Kultur die freiheitlich und
gemeinschaftlich gestalteten Formen des Alltags bezeichnet”. Welchen Eindruck
hast du von Rockers Kulturbegriff gewonnen?
!H.D.: Hier werden die RezensentInnen Rockers Definition von Kultur übersprungen
haben, die da lautet: “Die ausnahmslose Regelmäßigkeit im Ablaufe aller
Geschehnisse, wie sie ohne gewisse Zwecksetzungen, also ohne menschliche
Mittätigkeit zustande kommt, heißen wir Natur. Das vom Menschengeschlecht
zweckmäßig und planvoll Erarbeitete, Beabsichtigte, Erstrebte, Erreichte und
Gestaltete hingegen nennen wir Kultur.” (S. 337) Aber auch für den Fall, dass
sich dieser Einwand nur auf den Kunstbegriff beziehen sollte, trifft er nicht
zu. Einerseits gibt Rocker zwar Beispiele für künstlerische Einzelleistungen in
der Geschichte, andererseits zeigt er in aller Ausführlichkeit auf, dass ein/e
KünstlerIn nicht aus sich selbst schöpfen kann, sondern auf bereits Bestehendes
zurückgreift. Insofern jedenfalls versteht er den Kunstbegriff als kollektives
Schaffen, welches aufeinander aufbaut. Zudem seien Antike, Gotik oder
Renaissance “als Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Gestaltung und der
geistigen Erkenntnisse bestimmter Epochen zu bewerten”. Das macht er z.B. im
Bereich der Architektur deutlich (S. 482 f.).
Folgendes Goethe-Zitat verwendete Rocker zu diesem Aspekt auch bezüglich der
Literatur als Kunstbereich: “Im Grunde aber sind wir alle kollektive Wesen...
Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen
Inneren verdanken wollte... Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen
Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir
dazu das Material boten...” (S. 448). Die Kritik auf den ersten Blick
nachvollziehen kann ich dagegen in Rockers Ausführungen auf dem Gebiet der
Malerei, wo es stellenweise auch mir so vorgekommen ist, dass Malerei sehr stark
an Einzelpersonen festgemacht wird und Rocker auch sagt, das jedes Kunstwerk in
erster Linie von der Persönlichkeit des Schaffenden beseelt sei (S. 491).
Bei näherem Hinschauen hatte ich jedoch keine Zweifel mehr daran, dass Rocker
die Malerei doch als letztendlich kollektives und Epocheunabhängiges Gebiet
betrachtete, gerade, wenn er betont, dass Stilgebile aus anderen heraus
entwickelt würden (S. 473). Im Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen betrachtet
trifft demnach die Kritik der Mittwochsgruppe meiner Meinung nach nicht zu,
weder für Kunst und erst recht nicht für Rockers Kulturbegriff als Ganzen, da
bedarf es wirklich nur flüchtiger Blicke z.B. in seine Ausführungen zu Sprache,
Wirtschaft oder Wissenschaft, um festzustellen, dass Kultur eben nicht als
“besondere(r) Ausdruck des einzelnen Individuums” dargestellt wird - das genaue
Gegenteil ist der Fall. Hier wird ganz deutlich, dass Rocker den Begriff der
Kultur nicht auf “Kunst” reduziert, sondern menschliche Tätigkeit in ihrer
Gesamtheit fasst. Klar bezeichnet Rocker Kultur z.B. auch als “freiheitlich und
gemeinschaftlich gestaltete Form des Alltags”. Sprache und Wirtschaft sind doch
etwas alltägliches.
?“Psychodynamische Erklärungsansätze” blieben bei Rocker ausgeklammert, heißt
es weiter...
!H.D.: Gerade auf diesen Aspekt geht Rocker aber doch ausführlich ein, wie ich
es gerade in der Direkten Aktion Nr. 150 darlegen konnte. Überhaupt ist mir beim
Durchlesen der Rezension aufgefallen, dass Rockers Begriff von der “politischen
Religion” in ihrer Besprechung garnicht ausgeführt wird. Dieser Begriff stellt
jedoch einen elementaren Bestandteil des ganzen Werkes dar. (S. 235, bes. S.
241-250 ff.). Ganz ausführlich widmet Rocker sich der Entstehung von einem
“Geist der Abhängigkeit” und dessen Folgen, wie der Diktatur. Da gibt es viele
Zitate, welche die Problematik gestochen scharf genau auf den Punkt bringen
(einige davon sind in der Direkten Aktion Nr. 150 nachzulesen).
?Rocker argumentiere “stets vom Standpunkt eines weißen, mitteleuropäischen,
Intellektuellen gebildeten Mannes”, weshalb sich seine Darstellungen bei
Vergleichen zwischen europäischen und außereuropäischen Vorgängen oft als
eurozentristisch” erweise.
!H.D.: Rocker beschreibt meiner Meinung nach sehr ausführlich die förderlichen
Auswirkungen islamisch-arabischer Kultureinflüsse auf den Westeuropäischen Raum
(Spanien) im Mittelalter genauso, wie die Rückeroberung durch Philipp II. und
den Katholizismus und den anschließenden Verfall der Kultur gerade durch weiße,
mitteleuropäische und kirchlich-intellektuelle Einwirkung. Und wenn wir die
Geschichte der USA nicht vollständig als einen Abklatsch Europas deuten, brauche
ich nur auf das Kapitel “Liberale Ideen in Europa und Amerika” hinweisen. Die
ansonsten klare Dominanz europäischer Geschichte stört mich wenig, da auch ich
mit europäischer Geschichte am meisten vertraut bin. Die Frage ist mal wieder so
eine Aufzählung von Kriterien, welche in den meisten intellektuell-libertären
Kreisen seit etlichen Jahren dominierend sind und die mit syndikalistischer
Sichtweise nur am Rande zu tun haben - deshalb haben solche Aspekte zu Rockers
Zeiten auch kaum Gewicht gehabt.
Für mich ist eine ständige Betonung dieser Betrachtungen unter Ausblendung
syndikalistischer Aspekte gerade Typisch für eine weiße, mitteleuropäisch und
intellektuelle neoanarchistische Kritik und Kultur. Ich habe dagegen eher die
Erfahrung gemacht, dass nichtweiße, nichtmitteleuropäische und
nichtintellektuelle Menschen auf gerade die hier aufgeworfenen Kriterien sehr
viel weniger Wert legen, als die weißen kleinbürgerlichen
intellektuell-libertären Kreise aus Mitteleuropa. Dieses Sammelsurium an
Kriterien ist für mich lediglich Ausdruck von modischer Szenekonformität, die
mit der Lebensrealität (natürlich) wenig zu tun hat. Dass sich die KritikerInnen
der Mittwochsgruppe überrascht zur “unschuldigen Verwendung des Begriffes
‘Volk’” durch Rocker äußern, ist für mich ein weiteres Beispiel für die
ahistorische Herangehensweise an Rockers Text. Die Verwendung des Begriffes
“Volk” war damals ganz normal. Aber dieser ganze Komplex (im doppelten Sinne)
ist das Problem der NeoanarchistInnen, nicht der ArbeiterInnen. Die damaligen
GenossInnen hatten es nicht nötig, diese Kriterien moralisch dermaßen
aufzuladen. Internationalismus und Solidarität waren das Blut im Körper der
syndikalistischen ArbeiterInnenbewegung. Und Intellektualität war das Ergebnis
von ArbeiterInnenbildung- und Kultur, bei wenigen Ausnahmen. Gerade Rockers
einfache Sprache sollte Beweis genug dafür sein, dass er nicht in erster Linie
Intellektueller war.
? Hat dann auch die Kritik der Mittwochsgruppe, bei Rocker fehle eine
“patriarchatskritische” ´Sicht”, ebenso keine Berechtigung?
!H.D.: Ich habe nicht gesagt, dass Kritik z.B. an eurozentristischer Sicht keine
Berechtigung habe. Ich finde nur die Herausstellung in dieser Form so anbiedernd
an die moralisch-politische Korrektheit der NeoanarchistInnen, welche schon seit
Jahrzehnten nichts anderes zu tun zu haben scheinen, als Gutmenschentum zu Schau
zu stellen. Und das hat eben mit ArbeiterInnenbewegung und Syndikalismus nichts
zu tun. Die Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern sind dagegen von
großer Relevanz. Und hier kann ich mich der Kritik der Mittwochsgruppe auch mal
anschließen. Rocker nimmt so ziemlich alles auseinander: Zentralismus, Willen
zur Macht, politische Religion, Rassismus, Antisemitismus, Demokratie, Recht und
vieles mehr. Worauf er garnicht eingeht, es nicht einmal einfließen lässt, ist
die Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen in der Geschichte. Das ist in
der Tat ein Manko.
?Hast du denn außer dieser Feststellung keine Kritik an Rockers Hauptwerk?
!H.D.: Ich hätte mir das Buch natürlich noch viel umfangreicher gewünscht, da so
vieles, gerade viele Beispiele untern Tisch fallen. Wenn er z.B. Goethe so
häufig erwähnt, hätte ich mir den goetheunterlegenen J.M.R. Lenz an seiner Seite
im Text gewünscht. Ich konnte in “Nationalismus und Kultur” eine mangelhafte
Anordnung der Kapitel erkennen, dass sie z.B. selten aufeinander aufbauen -
chronologisch, wie inhaltlich. Kurz gesagt: Er schreibt ziemlich durcheinander,
was die Kapitelanordnung zueinander angeht. In meiner Ausarbeitung habe ich
deshalb zunächst die Grundpositionen herausgearbeitet, welche sich durch Rockers
gesamtes Werk ziehen und erst danach seine Beschreibungen chronologisch
angeordnet. Und erst darauf baut in einem dritten Teil die Zusammenfassung von
Rockers Vorstellungen von der Befreiung der Gesellschaft von Kapitalismus und
Staat, welche sich wiederum durch das ganze Buch ziehen, auf. So nützlich und
lehrreich Rockers Ausführungen sind, so schmerzlich sind die mangelnden
Quellenangaben. Zumindest etwas aufgefangen wurde dieses Manko durch die
Neuherausgabe des Werkes durch die Bibliothek Theleme 1999 mit einem
reichhaltigen Anhang mitsamt Bibliographie, Register, Nachwörtern, usw. Ein
fettes Dankeschön also an diejenigen, die sich diese Mühe gemacht haben!!!
Aus: Direkte Aktion, Nr. 152/2002
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