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Helge Döhring
Syndikalismus und Theorie
Der Syndikalismus ist eine Bewegung von im Leben stehenden Männern und Frauen.
Das bedeutet für uns: Alle unsere Erfahrungen und Wertvorstellungen müssen sich
mit unserem Alltag messen lassen. Das ist der Sinn von Theorie. Andernfalls
bleibt diese abgehoben und für unser Leben wertlos. Hierbei spreche ich von
Theorien gesellschaftlicher Veränderungen auf dem Weg zu einer freien
Gesellschaft ohne Zentralismus und Bevormundung ihrer Mitglieder. Täglich sind
wir den Angriffen kapitalistischer Wirtschaftsweise und deren staatlichen
Handlangern ausgesetzt, ob im Betrieb oder bei der staatlichen Armutsverwaltung.
Was wir an Theorien erarbeiten, steht somit in direktem Zusammenhang zu unserem
Lebensumfeld und unserer persönlichen ökonomischen Situation. Unsere Theorie
dient der praktischen Anwendung. Hierzu ist sie geschaffen. Andere
Theoriegebilde außer unserer eigenen, wie zum Beispiel die marxistische, müssen
sich ebenso an unserem Leben messen lassen. So stimmt unsere Analyse der
kapitalistischen Wirtschaftsweise mit denen Karl Marx überein. Auch die Methode
des historischen Materialismus findet bei uns gelegentlich Anwendung, wo sie
versagt, ziehen wir andere Methoden vor.
Wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte als Bewegung und mit der Geschichte
anderer Bewegungen. Der Syndikalismus ist eine Theorie, welche sich aus
verschiedenen Vorläufern speist.
Und so ist auch heute die Theorie für uns kein heiliger Gral. Es gibt kein
geschlossenes Theoriegebäude für alle Vorgänge in der Welt. Auch die
humanistisch verklärte Raubökonomie mit dem Namen Kapitalismus ist für uns nicht
das Ende der Geschichte. Geschichte und Entwicklungen sind veränderbar durch uns
in vielen Schritten. Wir verlassen uns auf keinerlei Versprechungen auf
Verbesserungen im jenseits, wie es die Kirche uns verspricht, wenn wir nur artig
und fromm sind. Und wir verlassen uns auf keinerlei Versprechungen auf
Verbesserungen, die im Diesseits aufgrund veränderter Produktionsverhältnisse
notwendigerweise eintreten müssten, wie uns verschiedene Marxisten einreden
wollen. Immer geht es bei solchen fatalistischen Glaubenssätzen nur darum, unser
jetziges Leben einer heilversprechenden Zukunft zu opfern. Uns den Glauben,
ihnen den Profit? Das haben wir immer abgelehnt. Auf unserem Weg zu einer freien
Gesellschaft ist es wichtig, Erfahrungen und Selbstvertrauen zu erlangen, zu
Wissen und Willen zu kommen. Beides zusammen wird uns die Möglichkeiten geben,
uns in dieser Welt mit ihren widrigen Umständen besser orientieren zu können und
unsere Schlagkraft zu stärken, weil der Wille uns Antreibt und das Wissen die
Richtung möglichst gut bestimmen kann. Beides wird durch unsere
Alltagserfahrungen geformt und gestärkt. Die Kopplung von Willen und Wissen
macht unsere Theorie aus, welche sich aus unserer Praxis ableitet. Wir sind nahe
dran an der Realität, das ist uns wichtig. Denn die Realität ist sehr nahe an
uns dran, das spüren wir jeden Tag.
Wir können nur so weit in die Zukunft schauen, wie es unsere praktischen
Erfahrungen zulassen. Je weiter wir schauen, desto ungenauer fällt unsere
Theorie aus. Aber auch damit sind wir weiter als viele akademische Naseweise
jedweder Richtung. Zudem formulieren wir mit einer freien Zukunftsgesellschaft
die hehrsten Ansprüche an die Menschheit. Wir halten dies nicht für utopisch,
sondern für vernünftig. Der Mensch hat einen Geist erhalten, nicht damit er
diesen beschränkt. Er sollte ihn anwenden und zuversichtlich in die Zukunft
schauen. Wir sind nämlich die einzigen, die den Lauf der Dinge bestimmen können,
wenn wir nur auf uns selber hören würden, statt weiterhin den Versprechungen
anderer auf dem Leim zu gehen.
Nein, die jetzigen Verhältnisse sind nicht das Ende der Geschichte. Genauso
wenig wie das Mittelalter oder das dritte Reich. Dies aufzuzeigen liegt an uns.
Dies ist unsere historische Aufgabe. Genauso wie es für uns im Alltag einfache
Notwendigkeit ist!
Aus: Bremer Aktion Nr. 12 (2006)
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