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Peter Kropotkin
Der Wohlstand für Alle
Unsere Reichtümer
Die Menschheit hat einen weiten Weg seit jenen verflossenen Zeitaltern
zurückgelegt, in denen der Mensch noch aus Kieselsteinen seine kümmerlichen
Werkzeuge formte, da er noch von den Zufälligkeiten der Jagd lebte und als
gesamte Erbschaft seinen Kindern einen Schlupfwinkel unter Felsen, ein paar
armselige Steinwerkzeuge hinterließ und im übrigen sie der Natur preisgab, der
gewaltigen, furchtbaren Natur, mit der sie den Kampf aufnehmen mußten, um ihre
elende Existenz zu fristen.
Indes, seit dieser wirren Epoche, die Tausende und aber Tausende Jahre gewährt
hatte, hat das Menschengeschlecht unerhörte Schätze gesammelt. Es hat den Boden
urbar gemacht, Sümpfe getrocknet, Wälder gerodet, Straßen angelegt. Es hat
gebaut, erfunden, beobachtet, gedacht. Es hat einen komplizierten
Werkzeugapparat geschaffen, der Natur ihre Geheimnisse entrissen, den Dampf
gebändigt; kurz, man hat es dahin gebracht, daß das Kind des zivilisierten
Menschen heute bei seiner Geburt ein unermeßliches, von seinen Vorfahren
aufgehäuftes Kapital vorfindet. Und dieses Kapital erlaubt heute jedem, falls er
nur seine Arbeit mit der anderer vereinigt, Reichtümer zu gewinnen, die die
Träume der Orientalen in ihren Erzählungen von „Tausendundeine Nacht“ weit
übertreffen.
Der Boden, soweit er kultiviert ist, und wenn man ihn nur zweckmäßig bestellt
und für die Saat ausgewählte Körner verwendet, ist bereit, sich mit üppigen
Ernten zu schmücken, reicheren Ernten, als es die Befriedigung aller
menschlichen Bedürfnisse erforderte. Und die Mittel, deren sich die
Landwirtschaft dazu bedient, sind bekannt.
Auf dem jungfräulichen Boden der Prärien Amerikas produzieren hundert Menschen
mit Hilfe gewaltiger Maschinen in einigen Monaten so viel Getreide, als zur
Erhaltung von 10.000 Menschen während eines ganzen Jahres notwendig ist. Da, wo
der Mensch seinen Ertrag verdoppeln, verdreifachen, verhundertfachen will,
fabriziert er sich den geeigneten Boden, wendet er jeder Pflanze die Sorge zu,
deren sie bedarf, und er erzielt geradezu fabelhafte Ernten. Und während der
Jäger sich ehemals hundert Quadratkilometer bemächtigen mußte, um die Nahrung
für seine Familie zu finden, läßt der zivilisierte Mensch heute mit unendlich
geringerer Mühe und weit größerer Sicherheit auf einem Zehntausendstel dieses
Raumes alles hervorsprießen, was die Erhaltung der Seinigen erheischt.
Das Klima ist kein Hindernis mehr. Wenn die Sonne nicht scheint, so ersetzt sie
der Mensch durch künstliche Wärme, und es ist zu erwarten, daß er zur
Beschleunigung des Wachstums auch das Licht bald künstlich herstellen wird. Mit
Hilfe von Glasdächern und Wasserheizung erntet er auf einem gegebenen Raum das
Zehnfache von dem, was man früher auf ihm erzielte.
Die in der Industrie vollbrachten Wunder sind noch viel erstaunlicher. Mit Hilfe
jener mit Intelligenz begabten Wesen - der modernen Maschinen (die Frucht von
drei oder vier Generationen meist unbekannter Erfinder) - fabrizieren heute 100
Menschen das, wovon 10.000 Menschen während Zweier Jahre sich kleiden können. In
den gut organisierten Kohlenbergwerken fördern in jedem Jahr 100 Menschen so
viel Heizmaterial, wie zur Erwärmung der Wohnungen von 10.000 Familien im
kältesten Klima ausreicht. Kürzlich hat man auf dem Marsfelde in Paris eine
ganze Stadt voll wunderbarer Schönheit in wenigen Monaten entstehen sehen, ohne
daß dabei auch nur die geringste Unterbrechung in den gewöhnlichen Arbeiten
eingetreten ist.
Und wenn auch heute in der Industrie und im Ackerbau wie in Gesamtheit unserer
sozialen Organisation die Arbeit unserer Vorfahren nur einer kleinen Minderzahl
zugute kommt - so ist es doch nicht weniger sicher, dass sich heute schon die
Menschheit eine Existenz in Reichtum und Luxus würde schaffen können - unter
einziger Hilfe jener Diener aus Eisen und Stahl, die sie besitzt.
Ja, wir sind reich, unendlich viel reicher, als wir gemeiniglich denken: reich
durch das, was wir schon besitzen, reicher noch durch jenes, was wir mit Hilfe
des gegenwärtigen Werkzeugmechanismus produzieren können, und unermeßlich viel
reicher durch das, was wir aus unserem Boden, aus unseren Manufakturen mit Hilfe
der Wissenschaft und unserem technischen Wissen werden erzielen können, wenn
diese erst dazu dienen würden, um allen den Wohlstand zu schaffen.
II.
Wir sind reich in unseren zivilisierten Gesellschaften. Woher also das Elend,
das um uns herum herrscht? Warum da die harte, die Massen abstumpfende Arbeit?
Warum diese Unsicherheit, wie es einem morgen ergehen wird, die selbst den
bestbezahlten Arbeiter nicht verschont? Warum alles dies inmitten der von der
Vergangenheit ererbten Reichtümer und trotz der gewaltigen Produktionsmittel,
die bei einer täglichen Arbeit von nur wenigen Stunden allen den Wohlstand
schaffen könnten?
Die Sozialisten haben es ausgesprochen und bis zum Überdruß wiederholt; sie
wiederholen es jeden Tag und belegen es durch Beweise, die den gesamten
Wissenschaften entlehnt sind: Weil alles, was zur Produktion nötig ist, der
Boden, die Bergwerke, die Maschinen, die Verkehrswege, die Nahrungsmittel, die
Wohnungen, die Erziehung, das Wissen, weil alles das der ausschließliche Besitz
einiger weniger geworden ist - im Verlauf einer langen Geschichtsperiode voller
Raub, Auswanderungen, Kriege, Unwissenheit und Unterdrückung, die die Menschheit
durchlebte, ehe sie gelernt hatte, die Naturkräfte zu bändigen.
Weil diese wenigen sogenannte Rechte vorschützen, die sie in der Vergangenheit
erworben haben wollen, und auf Grund dieser sich heute zwei Drittel des Ertrages
der menschlichen Arbeit aneignen, mit der sie die unsinnigste und empörendste
Verschwendung treiben. Weil sie die Massen dahin gebracht haben, daß diese nie
mehr für einen Monat, kaum einmal für acht Tage genug zu leben haben, weil sie
infolgedessen die Macht besitzen (welche sie auch ausnutzen), niemanden arbeiten
zu lassen, der ihnen nicht stillschweigend den Löwenanteil am Gewinn überläßt;
weil sie die Produktion dessen erzwingen, was dem Ausbeuter den größten Gewinn
verheißt.
Das ist das Wesen des Kapitalismus!
Wie sieht ein zivilisiertes Land heute aus? Die Wälder, die es ehemals
bedeckten, sind gelichtet, die Sümpfe sind getrocknet, das Klima ist ein
gesundes, kurz, das Land ist bewohnbar geworden. Der Boden, der ehemals nur Gras
und Kräuter trug, liefert heute reichliche Getreideernten. Die Felsen, die
seinerzeit die Täler des Südens überhingen, sind in Terrassen umgewandelt, an
denen der Weinstock mit seiner goldigen Frucht emporklettert. Die wilden Kräuter
und Sträucher, die früher nur herbe Früchte und ungenießbare Wurzeln lieferten,
sind auf dem Wege schrittweiser Veredelung in nahrhafte Gemüse, in Bäume, die
ausgesuchte Früchte tragen, verwandelt worden.
Tausende von Straßen, mit Steinen und Eisen gepflastert, durchschneiden das
Land, durchbohren die Berge. Die Lokomotive pfeift in den wilden Schluchten der
Alpen, des Kaukasus, des Himalaja. Die Flüsse sind schiffbar gemacht worden. Die
Küsten, ausgelotet und sorglich vermessen, gestatten ein leichtes Landen.
Künstliche Häfen, unter unsäglichen Mühen ausgegraben und gegen das Wüten des
Ozeans geschützt, gewähren Schiffen sichere Zuflucht. Tiefe Schachte
durchstechen die Felsen; ganze Labyrinthe unterirdischer Gänge breiten sich
überall dort aus, wo es Kohle zu fördern oder Erze zu graben gibt. An allen
Punkten, wo Straßen sich kreuzen, sind Städte entstanden, und in ihren Mauern
finden sich alle Schätze der Industrie, der Kunst und der Wissenschaft.
Ganze Generationen, geboren und gestorben im Elend, unterdrückt, entkräftet
durch Überarbeit und mißhandelt von ihren Herren, haben diese ungeheure
Erbschaft dem neunzehnten Jahrhundert vermacht.
Während Tausender von Jahren haben Millionen von Menschen daran gearbeitet, die
Wälder zu lichten, die Sümpfe auszutrocknen, die Straßen zu bahnen, die Flüsse
einzudeichen. Jedes Hektar Erde, das wir in Europa bebauen, ist gedüngt mit dem
Schweiße mehrerer Rassen; jede Straße hat eine ganze Geschichte von
Frondiensten, von übermenschlicher Arbeit, von Leiden des Volkes. Jede Meile
Eisenbahn, jeder Meter eines Tunnels haben Menschenblut erfordert. Die Gänge der
Bergwerke tragen noch ganz frische Spuren von den Hieben, die der Bergmann gegen
den Felsen geführt hat, und schon könnte jeder Pfeiler der unterirdischen
Galerien gekennzeichnet sein durch das Grab eines Bergmannes, der in der Blüte
der Jahre vom schlagenden Wetter, durch einen Einsturz oder eine Überschwemmung
hinweggerafft wurde; und man weiß, was für Tränen, Entbehrungen und namenloses
Elend jedes dieser Gräber der Familie gekostet hat, die von dem mageren Lohn des
im Schutte verscharrten Mannes gelebt hat.
Die Städte untereinander durch Eisenbahn- und Schiffahrtlinien verbunden, sind
Organismen von einem jahrhundertelangen Leben. Durchgrabet ihren Untergrund, und
ihr werdet die Schichten finden, die davon Zeugnis ablegen, die aber jetzt durch
Straßen, Häuser, Theater, Spielplätze und öffentliche Bauten verdeckt sind.
Vertiefet euch in die Geschichte, und ihr werdet sehen, wie die Zivilisation der
Städte, ihre Industrie, ihr Geist ganz allmählich herangereift sind durch die
vereinigten Bemühungen aller ihrer Bewohner. So allein konnten sie das werden,
was sie heute sind.
Und weiter - der Wert eines jeden Hauses, einer jeden Fabrik, eines jeden
Bergwerkes, eines jeden Magazins ist wieder nur das Resultat der aufgehäuften
Arbeit von Millionen begrabener Arbeiter, und sie bewahren ihn einzig nur durch
die Anstrengungen ganzer Legionen von Menschen, die über den ganzen Erdball hin
wohnen. Jedes Atömchen dessen, was wir Nationalreichtum nennen, bekommt seinen
Wert erst durch die Tatsache, daß es ein Teil dieses unermeßlichen Ganzen ist.
Was würde ein Dock in London, ein großes Magazin in Paris sein, wenn es nicht in
diesen großen Zentren des internationalen Handels gelegen wäre? Was wären unsere
Bergwerke, unsere Fabriken, unsere Bauplätze, unsere Eisenbahnen ohne die Masse
der täglich zu Wasser und zu Lande transportierten Waren?
Millionen menschlicher Wesen haben daran gearbeitet, diese Zivilisation, deren
wir uns heute rühmen, zu schaffen. Andere Millionen, verstreut über alle Teile
des Erdballs, arbeiten daran, sie zu erhalten. Ohne sie würden nach Verlauf von
fünfzig Jahren nur noch Schutthaufen von vergangener Herrlichkeit zeugen.
Es gibt nichts, und sei es ein Gedanke oder eine Erfindung, was nicht
Kollektivarbeit wäre, was nicht in der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich
seinen Ursprung hätte. Tausende von Erfindern, bekannt oder unbekannt, gestorben
im Elend, haben die Erfindungen dieser Maschinen, in denen der Mensch von heute
sein Genie bewundert, vorbereitet. Tausende von Schriftstellern, Dichtern und
Gelehrten haben an dem Aufbau unseres Wissens, an der Beseitigung der Irrtümer,
an der Schaffung jener wissenschaftlichen Atmosphäre, ohne die keines der Wunder
unseres Jahrhunderts hätte in Erscheinung treten können, gearbeitet. Aber diese
Tausende von Philosophen, Gelehrten, Erfindern sind selbst wieder nur durch die
Arbeit vergangener Jahrhunderte angeregt worden. Sind sie nicht während ihres
Lebens ernährt und erhalten worden (in körperlicher wie in geistiger Beziehung)
durch Legionen von Arbeitern und Handwerkern aller Art? Haben sie nicht ihre
treibende Kraft aus ihrer ganzen Umgebung geschöpft?
Das Genie eines Seguin, eines Mayer und eines Grove haben sicherlich mehr dazu
getan, die Industrie auf neue Bahnen zu lenken, als alle Kapitalisten der Welt.
Aber diese Genies sind selbst wieder nur die Kinder der Industrie, nicht weniger
als die der Wissenschaft. Denn es war notwendig, daß Tausende von Dampfmaschinen
von Jahr zu Jahr unter aller Augen die Wärme in dynamische Kraft und diese
wieder in Schall, in Licht und in Elektrizität umsetzen, bevor diese genialen
Geister den mechanischen Ursprung und die Einheit der physischen Kräfte
proklamieren konnten. Und wenn wir, die Kinder des 19. Jahrhunderts, endlich
diese Idee begriffen haben, wenn wir verstanden haben, sie praktisch zu
verwenden, so rührt dies wieder nur daher, daß wir durch die Masse der
Erfahrungen aller früheren Tage fast daraufgestoßen wurden. Die Denker des
verflossenen Jahrhunderts hatten sie gleichfalls erfaßt und ausgesprochen: aber
sie war unbegriffen geblieben, weil das 18. Jahrhundert nicht wie wir mit der
Dampfmaschine aufgewachsen war.
Man denke nur, wie lange Jahre noch in Unkenntnis
jenes Gesetzes verflossen wären, das uns erlaubte, die ganze moderne Industrie
zu revolutionieren, wenn nicht Watt in Soho Arbeiter gefunden hätte, die
geschickt genug waren, seine theoretischen Vorschläge in Metallkonstruktion und
in vollendeter Form aller Teile auszuführen und so den Dampf, eingeschlossen in
einem vollständigen Mechanismus, gelehriger als das Pferd, fügsamer als das
Wasser, zur Seele der modernen Industrie gemacht hätten.
Jede Maschine hat, die gleiche Geschichte: eine lange Geschichte erfolglos
durchwachter Nächte, von Enttäuschungen und Freuden, von partiellen
Verbesserungen, ausfindig gemacht durch mehrere Generationen unbekannter
Arbeiter, die der primitiven Erfindung jene kleinen Unbedeutendheiten hinzufügen
sollten, ohne die die fruchtbarste Idee unfruchtbar geblieben wäre. Überhaupt
jede neue Erfindung ist eine Weiterbildung - ein Resultat von tausend
vorangegangenen Erfindungen auf dem unermeßlichen Gebiete der Mechanik und
Industrie.
Wissenschaft und Industrie, das Wissen und seine Anwendung, Erfindung und ihre
Verwirklichung, die wieder zu neuen Erfindungen führt, Gehirnarbeit und
Handarbeit - Gedanke und Muskelanstrengung - alles steht in inniger Verbindung.
Jede Entdeckung, jeder Fortschritt, jede Vermehrung des Reichtums der Menschheit
hat ihren Ursprung in der Gesamtheit von Hand- und Hirnarbeit der Vergangenheit
und Gegenwart.
Also mit welchem Recht darf sich irgend jemand auch nur des geringsten Teiles
dieses unermeßlichen Ganzen bemächtigen und sagen: „Das gehört mir und nicht
euch?“
III.
Aber in der Reihe der von der Menschheit durchlebten Zeitalter ist es dahin
gekommen, daß alles, was dem Menschen zur Produktion notwendig ist und was zur
Vergrößerung seiner Produktionskraft dient, von einigen wenigen an sich gerissen
worden ist. Wir werden seinerzeit vielleicht näher darauf eingehen und erzählen,
wie dies vor sich gegangen ist. Für den Augenblick genügt es uns, diese Tatsache
zu konstatieren und die Konsequenzen aus ihr zu ziehen.
Heute, da der Grund und Boden gerade durch die Bedürfnisse einer immer
wachsenden Bevölkerung seinen Wert erhält, gehört er einer kleinen Minderzahl,
die das Volk verhindern kann - und es auch tut - , ihn überhaupt zu kultivieren,
oder es doch verwehrt, ihn entsprechend den modernen Bedürfnissen zu bebauen.
Die Bergwerke, die die Arbeit mehrerer Generationen repräsentieren und ihren
Wert erst wohl durch die Bedürfnisse der Industrie und die Dichte der
Bevölkerung erhalten, gehören wieder nur einigen wenigen Personen, und diese
wenigen Personen beschränken die Ausbeute der Gruben oder verhindern sie völlig,
wenn sie eine günstigere Anlage für ihre Kapitalien finden. Auch die Maschine
ist das Eigentum einzelner. Und selbst, wenn eine solche unbestreitbar den
Stempel der Vervollkommnung seitens dreier Arbeitergenerationen an sich trägt,
sie gehört nichtsdestoweniger einigen Kapitalisten. Und wenn die Enkel desselben
Erfinders, der vor hundert Jahren die erste Spitzenwebmaschine konstruiert hat,
heute in einer Manufaktur von Basel oder Nottingham aufträten und ihr Recht
geltend machten, so würde man ihnen antworten: „Macht, daß ihr fortkommt, diese
Maschine ist nicht euer Eigentum“, und man würde sie füsilieren, wenn sie
ernsthaft von ihr Besitz ergreifen wollten.
Die Eisenbahnen, die ohne die dichte Bevölkerung Europas, ohne seine Industrie,
ohne seinen Handel und Wandel nur altes Eisen sein würden, gehören einigen
Aktionären, die vielleicht nicht einmal wissen, wo die Strecken liegen, die
ihnen Einkünfte, weit größer als die eines mittelalterlichen Königs, eintragen.
Und wenn die Kinder derer, die zu Tausenden bei Durchstichen und Tunnelbauten
umkamen, sich eines Tages versammelten und, eine zerlumpte und ausgehungerte
Masse, von den Aktionären Brot fordern wollten, so würden sie Bajonetten und
Mitrailleusen begegnen, die sie auseinandertreiben und die „wohlerworbenen
Rechte“ schützen würden.
Infolge dieser ungeheuerlichen Organisation der
Gesellschaft findet der Sohn des Arbeiters, wenn er in das Leben tritt, weder
ein Feld, das er bebauen, noch eine Maschine, die er bedienen, noch ein
Bergwerk, in dem er graben könnte - wenn er nicht einen großen Teil seines
Arbeitsproduktes an den Herrn dieser Produktionsmittel abführt. Er muß seine
Arbeitskraft für einen kärglichen Bissen Brot, der ihm jeden Augenblick auch
noch ganz verlorengehen kann, verkaufen. Sein Vater und sein Großvater haben
sich gemüht, dieses Feld trockenzulegen, jenes Hüttenwerk zu erbauen, jene
Maschinen zu vervollkommnen; sie hatten gearbeitet nach voller Maßgabe ihrer
Kräfte - und wer kann mehr als dies tun? - und er, er kommt ärmer als der Letzte
der Wilden auf die Welt. Wenn er die Erlaubnis erhält, ein Feld zu bebauen, so
geschieht dies nur unter der Bedingung, daß er ein Viertel der Regierung
abtreten muß. Und diese Steuer, die von ihm im voraus vom Staate, vom
Kapitalisten, vom Gutsherrn, vom Vermittler erhoben wird, vergrößert sich
täglich und läßt ihm in den seltensten Fällen die Möglichkeit, eine Verbesserung
des Bodens vorzunehmen. Ist er in der Industrie tätig, so erlaubt man ihm
gleichfalls nur zu arbeiten - und dies übrigens nicht einmal immer -; unter der
Bedingung, daß er sich mit der Hälfte oder gar einem Drittel des von ihm
Erzeugten begnügt; der Rest fällt dem zu, den das Gesetz als Eigentümer der
Maschine anerkennt.
Wir zetern gegen den Feudalbaron, der dem Bauer nicht gestattete, das Land zu
berühren, wenn er ihm nicht ein Viertel seiner Ernte überließ. Wir nennen jene
Zeit eine barbarische. Indes nur die Form der Ausbeutung hat gewechselt, der
Grad derselben ist der gleiche geblieben. Der Arbeiter nimmt heute unter dem
Namen des freien Kontraktes Feudallasten auf sich, denn nirgends würde er
bessere Bedingungen finden. Wo einmal alles das Eigentum eines Herrn geworden,
muß er sich fügen oder Hungers sterben.
Bei dieser Lage der Dinge ist es nur natürlich, daß unsere gesamte Produktion
eine widersinnige Richtung angenommen hat. Die kapitalistische Unternehmung
entspringt nicht den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft: ihr einziges Ziel
ist, die Einkünfte des Unternehmens zu steigern. Daher das fortwährende
Fluktuieren in der Industrie, daher die chronischen Krisen, von denen eine jede
die Arbeiter zu Hunderttausenden auf das Straßenpflaster wirft.
Da die Arbeiter mit ihrem geringen Lohn die Reichtümer, die sie produziert
haben, nicht kaufen können, so sucht die Industrie ihre Waren im Ausland unter
den Ausbeutern anderer Nationen abzusetzen. Im Orient, in Afrika, ganz gleich
wo, Ägypten, Tonkin oder Kongo, muß der Europäer unter diesen Umständen die Zahl
seiner Hörigen vermehren. Aber überall findet er Konkurrenten, denn alle
Nationen entwickeln sich im gleichen Sinne. Und damit sind die Kriege - der
Krieg in Permanenz - gegeben. Sie müssen ausbrechen, weil jeder der Herr der
Märkte sein will. Kriege für die Besitzungen im Orient, Kriege für die
Herrschaft auf dem Meere; Kriege, um Einfuhrzölle aufzuzwingen und seinen
Nachbarn Bedingungen vorzuschreiben; Kriege gegen diejenigen, die sich dagegen
auflehnen. Der Donner der Kanonen verstummt nicht mehr in Europa, ganze
Generationen sind hingeschlachtet worden, die europäischen Staaten verwenden ein
Drittel ihres Budgets auf Rüstungen; - und man weiß, was die Steuern sind und
was sie dem Armen kosten.
Die Erziehung bleibt das Privilegium einer
verschwindenden Minorität. Denn kann man von Erziehung sprechen, wenn das Kind
des Arbeiters gezwungen ist, mit zehn Jahren, oft schon früher, in der Industrie
tätig zu sein oder dem Vater bei schwerer landwirtschaftlicher Arbeit zu helfen?
Darf man dem Arbeiter, der abends mit zerschlagenen Gliedern von einer langen,
aufgezwungenen und stets abstumpfenden Arbeit heimkehrt, von Studien sprechen?!
Die Gesellschaft spaltet sich in zwei feindliche Lager, und unter diesen
Umständen ist die Freiheit ein bloßes Wort. Fordert der Radikale auch zuweilen
eine größere Ausdehnung der politischen Freiheiten, so wird er sich indessen
gewöhnlich bald bewußt, daß der Hauch der Freiheit leicht zu einer Erhebung des
Proletariats führen kann; und dann macht er kehrt, ändert seine Meinung und
nimmt zu Ausnahmegesetzen und zur Regierung mittels des Säbels seine Zuflucht.
Ein großer Apparat von Gerichtshöfen, Richtern, Henkersknechten, Gendarmen und
Kerkermeistern ist zur Stütze der Privilegien notwendig; und dieser Apparat wird
selbst wieder der Ursprung für ein ganzes System von Angebereien, Täuschungen,
Drohungen und Korruption.
Außerdem wirkt dieses System der Entwicklung gesellschaftlicher Empfindungen
entgegen. Ein jeder sieht ein, daß ohne Redlichkeit, ohne Selbstachtung, ohne
Mitgefühl, ohne gegenseitige Unterstützung die Gattung verkommen muß, ebenso wie
die Tiergattungen, die nur vom Raube und der Knechtung leben, verkommen. Aber
dies ist keine Warnung für die herrschenden Klassen, sie erfinden eine ganze,
absolut falsche Wissenschaft, um das Gegenteil zu beweisen.
Man redet wohl allerlei Schönes über die Notwendigkeit, den Besitz mit denen zu
teilen, die nichts besitzen. Aber wer es sich einfallen lassen sollte, dieses
Prinzip in die Wirklichkeit umzusetzen, der wird sofort belehrt, daß alle solche
hohen Empfindungen wohl in die Dichtung gehören - aber keineswegs in das Leben.
„Lügen“, denken wir, „das heißt sich erniedrigen, sich demütigen“ - gleichwohl
wird aber das ganze zivilisierte Leben mehr und mehr zu einer immensen Lüge. Wir
gewöhnen uns, gewöhnen unsere Kinder daran, mit einer doppelgesichtigen Moral
als Heuchler zu leben. Und widersetzt sich dem unser Gehirn, so gewöhnen wir es
an den Sophismus. Heuchelei und Sophisterei werden die zweite Natur des
zivilisierten Menschen. Aber eine Gesellschaft kann nicht so leben. Sie muß zur
Wahrheit zurückkehren oder verschwinden.
So erstreckt die einfache Tatsache der Kapitalkonzentration ihre
verhängnisvollen Konsequenzen über das gesamte soziale Leben. Unter der Gefahr
des Untergangs sind die menschlichen Gesellschaften gezwungen, auf folgende
Fundamentalprinzipien zurückzukommen: die Produktionsmittel müssen als
Kollektivprodukt der Menschheit wieder in Kollektivbesitz der Menschheit
gelangen; der individuelle Besitz ist weder gerecht noch nutzbringend; alles
soll allen gehören, da alle dessen bedürfen, da alle nach Maßgabe ihrer Kräfte
den Reichtum haben schaffen helfen, und da es faktisch unmöglich ist, den Anteil
zu bestimmen, der in der gegenwärtigen Produktion einem jeden zufallen könnte.
Alles soll allen gehören! Sehet jenen ungeheuren Werkzeugmechanismus, welchen
das 19. Jahrhundert geschaffen hat, jene Millionen Eisensklaven, Maschinen
genannt, die hobeln, sägen, spinnen, weben, die die Rohstoffe zerlegen und neue
bilden und die die Wunder unserer Zeitepoche ausmachen. Niemand hat das Recht,
sich einer einzigen dieser Maschinen zu bemächtigen und zu sagen: „Dieselbe
gehört mir. Wenn ihr euch ihrer bedienen wollt, so müßt ihr mir auf jedes eurer
Erzeugnisse einen Tribut bezahlen“; ebensowenig wie der Lehensherr des
Mittelalters das Recht hatte, zum Bauer zu sagen: „Dieser Hügel, diese Wiese
gehören mir, und ihr müßt mir einen Tribut auf jede Garbe Getreide, die ihr
erntet, für jeden Schober Heu, den ihr aufschichtet, entrichten.“
Alles soll allen gehören! Vorausgesetzt, daß Mann und Weib die ihnen mögliche
Arbeit liefern, haben sie ein Recht auf den ihren Bedürfnissen entsprechenden
Teil des Gesamtprodukts. Dieser Anteil wird genügen, um ihnen den Wohlstand zu
sichern.
Fort also mit jenen zweideutigen Forderungen, wie „das Recht auf Arbeit“ oder
„jedem der vollständige Ertrag seiner Arbeit“. Was wir proklamieren, das ist das
Recht auf Wohlstand, der Wohlstand für alle
Der Wohlstand für alle
I.
Der Wohlstand für alle ist nicht ein Traum. Er ist möglich, realisierbar nach
alledem, was unsere Vorfahren getan haben, um unsere Arbeitskraft zu befruchten.
Wir wissen, daß die eigentlichen Produzenten, die kaum ein Drittel der Einwohner
in den zivilisierten Ländern bilden, schon heute genügend produzieren, um dem
Herde einer jeden Familie einen gewissen Wohlstand bescheren zu können. Wir
wissen außerdem, daß, wenn alle diejenigen, die heute die Früchte fremder Arbeit
vergeuden, gezwungen wären, ihre Mußezeit mit nützlichen Arbeiten auszufüllen,
unser Reichtum in vielfachem Verhältnis zur Zahl der produzierenden Arme wachsen
würde. Wir wissen ferner, daß im Gegensatz zur Theorie des Priesters der
bürgerlichen Wissenschaft - Malthus - die Produktivkraft des Menschen viel
schneller wächst, als eine Fortpflanzung vonstatten geht. Je mehr Menschen sich
auf einem Territorium zusammendrängen, um so größer ist das Wachstum ihrer
Produktivkräfte.
Während die Bevölkerung Englands vom Jahre 1844 an nur um 62 Prozent wuchs, hat
sich seine Produktivkraft in der gleichen Zeit, schlecht gerechnet, verdoppelt -
um 130 Prozent vermehrt. In Frankreich, wo sich die Bevölkerung weniger stark
vermehrt hat, ist ihre Steigerung gleichwohl eine äußerst rapide gewesen. Trotz
der Krise, die auf der Landwirtschaft lastete, trotz der schwankenden Leitung
des Staates, trotz der Blutsteuer, trotz der ungünstigen Lage des Bankwesens,
der Finanzen und der Industrie hat sich während der letzten 80 Jahre die
Weizenproduktion daselbst vervierfacht und die industrielle Produktion
verzehnfacht. In den Vereinigten Staaten ist das Wachstum ein noch
erstaunlicheres gewesen: trotz der Einwanderung oder vielmehr gerade wegen
dieses auf Amerika sich abwälzenden „Überschusses“ an europäischen Arbeitern
haben die Vereinigten Staaten ihre Produktion in kurzer Zeit verzehnfachen
können.
Aber diese Zahlen geben uns nur eine schwache
Vorstellung von dem, was unsere Produktion unter günstigeren Bedingungen leisten
könnte. Wenn sich heute die Produktionsfähigkeit steigert, so wächst zu gleicher
Zeit die Zahl der Müßiggänger und Schmarotzerexistenzen in erschreckendem Maße.
Im Gegensatz zu dem, was früher die Sozialisten annahmen, nämlich, daß sich das
Kapital bald innerhalb einer so geringen Anzahl Hände konzentriert haben würde,
so daß man, um in den Besitz der gemeinsamen Reichtümer zu gelangen, nur einige
Millionäre zu expropriieren hätte, wird gerade die Zahl derer, die auf Kosten
fremder Arbeit leben, immer beträchtlicher.
In Frankreich kommen auf 30 Einwohner kaum 10 direkte Produzenten. Der ganze
jährlich erzeugte landwirtschaftliche Reichtum Englands ist das Werk von kaum 7
Millionen Menschen, und in den beiden großen Industrien - dem Bergwerkswesen und
der Weberei - zählt man kaum 2 1/2 Millionen Arbeiter. - Wie hoch beziffern sich
dagegen die Ausbeuter der Arbeit? In England (ohne Schottland und Irland)
fabrizieren 1,030.000 Arbeiter (Männer, Frauen und Kinder) die gesamten
Webestoffe; etwas über eine und eine halbe Million Menschen beuten die Bergwerke
aus, kaum eine und eine halbe Million arbeiten in der Landwirtschaft, und die
Statistiker müssen noch die Zahlen übertreiben, um bei einer Einwohnerschaft von
26 Millionen Menschen zu einem Maximum von 8 Millionen Produzenten zu kommen. In
Wirklichkeit sind höchstens 6-7 Millionen Arbeiter die Schöpfer der Reichtümer,
die aus England nach allen Windrichtungen der Welt verschickt werden. Und wie
hoch beläuft sich dagegen die Zahl der Renteneinnehmer und Schmarotzer, die,
abgesehen von allgemeinen Steuern, sich vom Konsumenten fünf- oder zwanzigmal
soviel für jede Ware zahlen lassen, als sie dem produzierenden Arbeiter gezahlt
haben.
Doch ist dies nicht alles. Diejenigen, die sich im Besitze des Kapitals
befinden, reduzieren ständig die Produktion dadurch, daß sie sie vielfach
überhaupt verhindern. Sprechen wir nicht von jenen Tonnen Austern, die man ins
Meer warf, um zu verhindern, daß die Auster ein Nahrungsmittel des Volkes würde
und aufhörte, eine Delikatesse für die bemittelte Welt zu sein; sprechen wir
nicht von jenen tausend und aber tausend Luxusobjekten - Stoffen,
Nahrungsmitteln usw. -, mit denen man in gleicher Weise verfuhr wie mit den
Austern. Rufen wir uns nur ins Gedächtnis zurück, in welcher Weise man die
Produktion der für jedermann notwendigen Gegenstände einschränkt. Ganze Armeen
von Bergmännern verlangen nichts Sehnlicheres, als täglich Kohle zu fördern und
an diejenigen zu versenden, die vor Kälte vergehen. Aber sehr häufig sind ein
Drittel oder gar zwei Drittel dieser Armeen verhindert, mehr als drei Tage in
der Woche zu arbeiten - es könnten ja sonst die hohen Kohlenpreise ins Sinken
geraten. Tausende von Webern könnten nicht ihrem Beruf nachgehen, zu einer Zeit,
in der ihre Frauen und Kinder sich nur mit Lumpen bekleiden können und drei
Viertel der Europäer eine Kleidung tragen, die diesen Namen kaum rechtfertigt.
Hunderte von Hochöfen, Tausende von Manufakturen bleiben ständig untätig, andere
arbeiten nur halbe Tage. Es gibt Millionen Individuen, die nach nichts weiter
als nach Arbeit verlangen, die man ihnen jedoch verweigert.
Millionen von Menschen würden glücklich sein, wenn sie die vielen noch
unbebauten oder schlecht kultivierten Länderstrecken in Gefilde mit reichen
Ernten umwandeln könnten. Ein Jahr zweckmäßiger, intelligenter Arbeit würde
genügen, um den Ertrag des Bodens, der heute in Frankreich im Durchschnitt nur
acht Hektoliter Getreide pro Hektar liefert, zu verfünffachen. Aber diese
bereitwilligen Pioniere müssen feiern, weil diejenigen, die den Grund und Boden,
die Bergwerke, die Manufakturen besitzen, es vorziehen, ihre Kapitalien - die
der Allgemeinheit gestohlenen Kapitalien -, in türkische oder ägyptische
Anleihen zu stecken oder in Gewinnanteilen der Goldminen Patagoniens anzulegen,
wo dann die ägyptischen Fellachen, die aus ihrem Geburtsland vertriebenen
Italiener oder die chinesischen Kulis für sie arbeiten.
Dies ist die bewußte oder direkte Einschränkung der
Produktion. Aber außer dieser gibt es noch eine indirekte und unbewußte
Einschränkung, die darin besteht, die menschliche Arbeit auf die Produktion von
absolut unnützen Gegenständen oder von Dingen zu verschwenden, die einzig zur
Befriedigung der törichten Eitelkeit der Reichen dienen.
Man könnte es nicht einmal annähernd in Ziffern wiedergeben, bis zu welchem Maße
die Produktivität in indirekter Form herabgesetzt wird - durch die Verschwendung
der Kräfte, die wahrhaft produktiv tätig sein könnten und namentlich den für die
nützliche Produktion so notwendigen Werkzeugapparat schaffen sollten. Es genügt,
die Milliarden zu erwähnen, die in Europa für Rüstungen verausgabt werden, ohne
einen anderen Zweck als Märkte zu erobern, als den Nachbarn nachteilige
Handelsverträge aufzuzwingen und die Ausbeutung des eigenen Landes zu
erleichtern; die Millionen, die jährlich jenen Schmarotzern gezahlt werden,
deren Aufgabe es ist, das Recht der Minoritäten auf die Leitung des ökonomischen
Lebens einer Nation zu erhalten; der Millionen, die für Richter, Gefängnisse,
Gendarmen und das ganze Rüstzeug, das man Rechtswesen nennt, verschleudert
werden, während - man weiß es wohl - eine Linderung (und sei sie noch so
unbedeutend) des Elends der Großstädte genügte, um die Verbrecherzahl bedeutend
zu vermindern; die Millionen endlich, die verbraucht werden, um durch das Mittel
der Presse schädliche Ideen, falsche Nachrichten im Interesse dieser Partei, der
und der politischen Persönlichkeiten oder jener Kompanie von Ausbeutern zu
verbreiten.
Aber auch das ist noch nicht alles. Denn es wird noch viel mehr total
überflüssige Arbeit verausgabt: hier, um den Reitstall, den Hundepark, das
Gesinde des Reichen zu erhalten, dort, um die Launen der Demimonde und den
entarteten Luxus der hohen faulenzenden Damen zu befriedigen; ferner, um den
Konsumenten zu zwingen, das zu kaufen, dessen er gar nicht bedarf oder um ihm
durch Reklame einen Artikel von schlechter Qualität aufzuzwingen; endlich noch,
um absolut schädliche Lebensmittel zu produzieren, die allerdings dem
Unternehmer einen schönen Gewinn abwerfen. Was auf diesem Wege an
Produktionskräften verschwendet wird, würde genügen, um die nützliche Produktion
zu verdoppeln oder um die Manufakturen und die Fabriken mit besseren
Werkzeugmaschinen auszustatten, die dann in kurzer Zeit die Magazine mit allem,
was zur Notdurft des Menschen gehört, dessen indes heute zwei Drittel der Nation
ermangeln, überschwemmen würden. Daraus resultiert, daß selbst diejenigen, die
in jeder Nation produktiven Arbeiten obliegen, zu einem Viertel regelmäßig
während dreier oder vier Monate im Jahre feiern müssen, und daß die Arbeit eines
zweiten Viertels, wenn nicht der Hälfte keinen anderen Zweck hat wie das
Amüsement der Reichen oder die Ausbeutung des Volkes.
Wenn man also in Betracht zieht, mit welcher Schnelligkeit auf der einen Seite
die zivilisierten Nationen ihre Produktivkraft steigern, welche Beschränkungen
auf der anderen Seite der Produktion, sei es direkt oder indirekt, durch die
gegenwärtigen Verhältnisse auferlegt werden, so muß man zu dem Schluß kommen,
daß eine einigermaßen vernünftige Organisation den zivilisierten Nationen es
möglich machen würde, innerhalb weniger Jahre so viele nützliche Produkte
anzuhäufen, daß man sich sagen müßte: „Vollauf genug Kohle, genug Brot, genug
Kleidung; ruhen wir einmal, sammeln wir uns, um unsere Kräfte besser zu
verwenden, um unsere Muße besser zu verwerten!“
Der Wohlstand für alle ist kein Traum mehr. Er konnte schon damals herrschen,
als es dem Menschen nur unter unsäglichen Mühen gelang, acht oder zehn
Hektoliter Getreide vom Hektar zu ernten, oder als er noch mit eigener Hand die
Werkzeuge, deren er für die Industrie oder die Landwirtschaft bedurfte,
verfertigen mußte. Er ist um so weniger ein Traum, seitdem der Mensch den Motor
erfunden hat, der ihm vermittels ein wenig Eisens und einiger Kilogramm Kohle
die Kraft eines gelehrigen und fügsamen Pferdes gibt, ihm die Möglichkeit
gewährt, die komplizierteste Maschine in Bewegung zu setzen.
Aber damit der Wohlstand Wirklichkeit werde, ist es notwendig, daß dieses
ungeheure Kapital - Städte, Häuser, kultivierte Ländereien, Fabriken,
Verkehrswege, Bildung usw. - nicht mehr als Privateigentum betrachtet wird,
worüber der Kapitalist nach Belieben verfügen kann.
Es ist notwendig, daß dieser unendlich reiche Werkzeugapparat, unter unsäglichen
Mühen durch unsere Vorfahren erworben, erbaut, gefertigt und erfunden,
Gemeineigentum werde, damit der Kollektivgeist zugunsten aller den
größtmöglichen Vorteil daraus ziehe. Dies bedingt die Expropriation. Der
Wohlstand für alle ist das Ziel, die Expropriation das Mittel.
II.
Die Expropriation, das ist also das Problem, das uns, den Menschen am Ende des
19. Jahrhunderts, die Geschichte gestellt hat: Rückkehr zum Gemeindeeigentum an
allem, was der Menschheit dazu dienen könnte, sich den Wohlstand zu schaffen.
Doch dieses Problem wird nicht auf dem Wege der Gesetzgebung gelöst werden
können. Dies bildet sich auch niemand ein. Der Arme wie der Reiche begreifen,
daß weder die gegenwärtigen Regierungen noch diejenigen, die aus einer
politischen Revolution als Regierende hervorgehen könnten, imstande sein würden,
die Lösung zu finden. Man fühlt die Notwendigkeit der sozialen Revolution, und
Reiche wie Arme verheimlichen es sich nicht, daß diese Revolution nahe ist, daß
sie jeden Tag ausbrechen kann.
Die Evolution hat sich im Verlauf der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts in den
Geistern vollzogen; aber eingezwängt durch die Minorität, d. h. durch die
besitzenden Klassen, und so außerstande, Gestalt anzunehmen, ist es
unumgänglich, daß die Hindernisse mit Gewalt beseitigt werden, daß die Evolution
sich gewaltsam durch die Revolution verwirklicht.
Von wo wird die Revolution kommen? Wie wird sie sich ankündigen? Niemand kann
diese Fragen beantworten. Dies liegt alles im Dunkeln. Aber diejenigen, die
beobachten und denken, gehen nicht in dieser ihrer Empfindung fehl: Arbeiter und
Ausbeuter, Revolutionäre und Reaktionäre, Geistes- und Handarbeiter, alle
fühlen, daß sie vor den Toren ist.
Und was werden wir tun, wenn die Revolution ausgebrochen ist?
Wir haben im allgemeinen die dramatische Seite der Revolution studiert, aber ihr
wahrhaft revolutionäres Werk liegt nicht in der Inszenierung, in dem Kampf der
ersten Tage, im Barrikadenbau usw., denn dieser Kampf, dieses erste Scharmützel
ist bald entschieden. Erst nach der Niederlage, der alten Regierungen beginnt
das eigentliche Werk der Revolution.
Unfähig und ohnmächtig, von allen Seiten angegriffen, werden die Regierungen
schnell vom Hauch der Revolution weggefegt sein. Nach Verlauf weniger Tage gab
es im Jahre 1848 keine bürgerliche Monarchie mehr, und als ein Fiaker
Louis-Philipp über die Grenze führte, dachte Paris nicht mehr an den Exkönig. Am
18. März 1871 war Paris innerhalb weniger Stunden von der Regierung Thiers'
befreit und damit eigener Herr seiner Geschicke. Und trotzdem waren die
Erhebungen von 1848 und 1871 nur politischer Natur. Vor der Volksrevolution
werden die Regierenden mit überraschender Schnelligkeit verschwinden. Ihr erstes
wird die Flucht sein, unter dem Vorbehalt allerdings, noch anderswo zu
konspirieren und sich so die Rückkehr zu ermöglichen.
Die alte Regierung ist beseitigt, die Armee zaudert gegenüber den hochgehenden
Wogen der Volkserhebung und gehorcht nicht mehr ihren Führern; diese haben sich
übrigens auch klugerweise aus dem Staub gemacht. Die Arme gekreuzt, läßt das
Heer den Dingen ihren Gang oder geht auch mit gesenkter Waffe zu den
Aufständischen über. Die Polizei - mit schlenkernden Armen - weiß nicht mehr, ob
sie dreinschlagen oder „vive la commune“ rufen soll; und die Schutzleute suchen
ihr Heim auf - „der neuen Regierung entgegensehend“. Die Großbürger schnallen
ihre Reisekoffer und suchen einen sicheren Ort zu gewinnen. Das Volk allein
bleibt auf dem Schauplatz. - So wird sich die Revolution ankündigen.
In mehreren Großstädten zugleich wird die Kommune proklamiert. Tausende von
Menschen drängen sich auf den Straßen und eilen abends in die improvisierten
Klubs. Man fragt sich: „Was ist zu tun?“ und diskutiert eifrig die öffentlichen
Angelegenheiten. Jedermann interessiert sich für sie, die Indifferenten von
gestern sind vielleicht die Eifrigsten. Überall der beste Wille und der
lebhafteste Wunsch, den Sieg zu sichern. Großer Opfermut offenbart sich. Das
Volk verlangt nichts sehnlicher, als vorwärtszuschreiten.
Alles dies ist schön, ist erhaben. Aber es ist noch nicht die Revolution. Im
Gegenteil, erst jetzt beginnt die Arbeit des Revolutionärs.
Die Staatssozialisten, die Radikalen, die verkannten Genies des Journalismus,
die effektvollen Redner - Bourgeois oder Exarbeiter - werden zum Stadthaus
eilen, in die Ministerien sich begeben und werden auf den verlassenen Sesseln
Platz nehmen. Die einen werden sich nach Herzenslust Tressen verleihen, sie
werden sich in den Spiegeln der Ministersalons bewundern, sie werden sich
einüben, mit gravitätischer Miene von der Höhe ihrer Situation Befehle zu
erteilen, als unumgänglich wird sich eine rote Schärpe erweisen, eine betreßte
Jakobinermütze und vor allem eine Amtsmiene, um ihren ehemaligen Exkameraden von
der Redaktion oder der Werkstatt zu imponieren. Andere werden sich in die Akten
vertiefen - mit dem besten Willen, etwas darin zu verstehen. Sie werden Gesetze
ausarbeiten. Dekrete in feierlichen Tiraden erlassen, um deren Ausführung sich
niemand kümmern wird - gerade deswegen, weil man sich in der Revolution
befindet.
Um sich eine Autorität zu verschaffen, die sie nicht besitzen, werden sie die
alten Regierungsformen zu sanktionieren suchen. Sie werden Namen wählen, wie
provisorische Regierung, Komitee der öffentlichen Sicherheit, Bürgermeister,
Kommandant des Stadthauses, Chef der Sicherheit - und was weiß ich für Namen.
Durch Abstimmung oder Akklamation gewählt, werden sie sich in Parlamenten oder
Ratsversammlungen der Kommune zusammenfinden. Daselbst werden sich nun Männer
treffen, die zehn, zwanzig verschiedenen Schulen angehören, die, wie man häufig
gesagt hat, nicht persönliche Kirchen sind, aber die den verschiedensten
Auffassungen über die Ausdehnung, Tragweite und Aufgabe der Revolution
entsprechen. Possibilisten, Kollektivisten, Radikale, Jakobiner, Blanquisten
sehen wir dort, gezwungenermaßen vereint, und ihre Zeit mit leerem Diskutieren
verlierend. Ehrliche Männer zusammen mit Ehrgeizigen, die nur von ihrer
Herrschaft träumen, und die Masse, der sie entstammen, verachten. Alle, von
diametral sich entgegenlaufenden Standpunkten ausgehend, gezwungen,
Scheinallianzen einzugehen, um Majoritäten, die nicht länger als einen Tag
währen, zustande zu bringen, ständig im Streit, einer den anderen als
Reaktionär, als Schurken behandelnd, unfähig, sich über irgend eine ernsthafte
Maßnahme zu verständigen, genötigt, sich über Kleinigkeiten herumzuzanken;
höchstens dazu gelangend, hochtrabende Proklamationen in die Welt zu setzen,
sich selbst alle außerordentlich wichtig dünkend, während die wahre Kraft der
Bewegung auf der Straße sich dokumentiert.
Alles dieses mag diejenigen amüsieren, die das Theater lieben. Aber noch einmal,
es ist nicht die Revolution, nichts ist damit geleistet.
Während dieser Zeit leidet das Volk. Die Fabriken feiern, die Werkstätten sind
geschlossen, der Handel liegt brach. Der Arbeiter bezieht nicht einmal mehr den
geringen Lohn, den er vordem hatte, die Preise der Lebensmittel steigen.
Mit jener heroischen Ergebenheit, die stets das Volk charakterisiert hat und die
sieh in allen außerordentlichen Zeiten zur Erhabenheit steigerte, geduldet es
sich. Das Volk war es, das im Jahre 1848 ausrief: „Ertragen wir drei Monate des
Elends im Dienst der Republik“, während die „Repräsentanten“ und die Herren der
neuen Regierung bis auf den letzten Polizisten herab regelmäßig ihr Gehalt
bezogen. Das Volk leidet. Mit seinem kindlichen Vertrauen, mit der sorglosen
Gutmütigkeit der Masse, die an ihre Führer glaubt, erwartet es, daß man dort
oben, in der Kammer, im Stadthaus, im Komitee der öffentlichen Sicherheit sich
seiner annähme.
Aber dort oben denkt man eher an alles andere, nur nicht an die Leiden des
Volkes. Als die Hungersnot im Jahre 1793 Frankreich verheert und die Revolution
selbst in Frage stellt, als das Volk im tiefsten Elend angelangt ist - während
die Elysäischen Gefilde von prächtigen Wagen bevölkert, in denen Frauen ihren
luxuriösen Schmuck zur Schau tragen -, da drängt Robespierre die Jakobiner, eine
Diskussion seiner Denkschrift über die englische Verfassung herbeizuführen. Als
der Arbeiter im Jahre 1848 unter dem allgemeinen Stillstand der Industrie
leidet, streiten sich die provisorische Regierung und die Kammer über die
Militärpensionen und die Gefängnisarbeit herum, ohne sich zu fragen, wovon
während dieser Krisis das Volk lebte. Und wenn man der Kommune von Paris, die
unter dem Kanonendonner der Preußen geboren wurde und nur siebzig Tage gewährt
hat, einen Vorwurf machen will, so ist es wieder der, daß sie noch nicht
begriffen hatte, daß die kommunale Revolution ohne gut gespeiste Kämpfer nicht
triumphieren könne, daß man mit dreißig Sous (Fr. 1.50) täglich nicht auf den
Befestigungen kämpfen und zu gleicher Zeit seine Familie erhalten könne.
Das Volk leidet und fragt: „Was soll geschehen, damit das Elend endet?“
III.
Es scheint uns, daß es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann:
Anzuerkennen und laut zu proklamieren, daß jeder, welches auch sein sogenannter
Stand in der Vergangenheit war, mag er stark oder schwach, tüchtig oder unfähig
sein, vor allem das Recht zu leben besitzt; und daß die Gesellschaft unter alle
ohne Ausnahme die Existenzmittel, über die sie verfügt, zu verteilen .hat, dies
anzuerkennen, zu proklamieren und danach zu handeln:
Derart zu handeln, daß der Arbeiter mit dem ersten Tag der Revolution weiß, daß
eine neue Ära angebrochen ist, daß zukünftig niemand mehr gezwungen ist, unter
den Brücken - neben Palästen zu schlafen, ohne Nahrung zu bleiben, wo es so
viele Nahrungsmittel gibt, vor Kälte zu zittern - neben Pelzmagazinen. Alles
soll allen gehören in Wirklichkeit wie im Prinzip. Endlich soll in der
Geschichte eine Revolution stattfinden, die an die Bedürfnisse des Volkes denkt,
bevor sie Pflichten predigt.
Dies wird sich nicht durch Dekrete verwirklichen lassen, sondern einzig durch
die unmittelbare und wirkliche Besitzergreifung alles dessen, was zur Sicherung
des Lebens aller gehört: das ist die einzige, auch wissenschaftliche Art,
vorzugehen, die einzige auch, die von der Masse des Volkes ersehnt und begriffen
wird. Besitz ergreifen im Namen des revoltierenden Volkes von den
Getreidelagern, von den Magazinen, die strotzen von Bekleidungsmitteln, von den
Wohnhäusern. Nichts zu verschwenden, sofort sich zu organisieren, jeglicher
Notdurft Rechnung tragen, um allen Bedürfnissen zu genügen, um zu produzieren,
nicht mehr im Interesse von irgend jemandes Einkünften, sondern zur Sicherung
des Lebens und der Entwicklung der Gesellschaft.
Fort mit jenen zweideutigen Forderungen, wie „das Recht auf Arbeit“, mit denen
man das Volk im Jahre 1848 gelockt hat und noch heute zu locken sucht. Haben wir
den Mut, anzuerkennen, daß der Wohlstand, da er möglich ist, sich auch um jeden
Preis verwirklichen muß.
Als die Arbeiter im Jahre 1848 das „Recht auf Arbeit“ forderten, organisierte
man National- und Munizipalwerkstätten und schickte die Arbeiter hinein, damit
sie sich dort für tägliche vierzig Sous (Fr. 2.-) abquälen sollten! Als sie die
„Organisation der Arbeit“ forderten, antwortete man ihnen: „Geduldet euch, meine
Freunde, die Regierung wird sich damit beschäftigen, und für heute nehmt diese
vierzig Sous. Ruhet euch aus, ihr armen Arbeiter, die ihr euer ganzes Leben euch
gequält habt.“ Und unterdessen fuhr man die Kanonen auf. Man zog die Reserve und
den Landsturm ein, man vernichtete die Organisation der Arbeiter durch
tausenderlei Mittel. Und eines schönen Tages sagte man zu ihnen: „Geht nach
Afrika, um dort Kolonien zu gründen, oder wir schießen euch über den Haufen.“
Ganz anders wird das Resultat sein, wenn die Arbeiter das Recht auf den
Wohlstand fordern. Sie proklamieren dadurch zugleich ihr Recht, sich des ganzen
sozialen Reichtums zu bemächtigen, Besitz von den Häusern zu ergreifen und sich
in ihnen entsprechend den Bedürfnissen jeder Familie einzurichten, die
aufgehäuften Lebensmittel an sich zu reißen, zu genießen, damit sie endlich
einmal den Wohlstand kennenlernen, nach dem sie so lange sich gesehnt haben. Sie
proklamieren ihr Recht auf alle Reichtümer - als der Frucht der Arbeit
vergangener und gegenwärtiger Generationen; und sie werden sich ihrer bedienen,
um endlich einmal die hohen Genüsse der Kunst und der Wissenschaft
kennenzulernen, die nur zu lange das ausschließliche Eigentum der Bourgeoisie
gewesen sind.
Und indem sie ihr Recht auf den Wohlstand erklären, erklären sie gleichzeitig -
was das Wichtigste ist - ihr Recht, selbst darüber zu entscheiden, worin dieser
Wohlstand bestehen soll, was zu seiner Sicherung zu produzieren ist und was als
wertlos nicht mehr produziert werden soll.
Das Recht auf Wohlstand bedeutet die Möglichkeit, als menschliche Wesen zu leben
und die Kinder so aufzuerziehen, daß aus ihnen gleichberechtigte Glieder einer
besseren Gesellschaft als der unserigen werden können, während das „Recht auf
Arbeit“ das Recht bedeutet, ewig Lohnsklave zu bleiben, ein Arbeitstier, das
geleitet und ausgebeutet wird durch den Bourgeois von morgen. Das Recht auf
Wohlstand ist die soziale Revolution, das Recht auf Arbeit ist günstigstenfalls
ein industrielles Zuchthaus.
Es ist hohe Zeit, daß der Arbeiter sein Recht auf die Gemeinerbschaft geltend
macht und daß er von ihr Besitz ergreift.
Der anarchistische Kommunismus
I.
Jede Gesellschaft, die mit dem Privateigentum gebrochen hat, wird nach unserer
Meinung gezwungen sein, sich in anarchistisch-kommunistischer Form zu
organisieren. Die Anarchie führt zum Kommunismus, und der Kommunismus zur
Anarchie; das eine wie das andere ist nur der Ausdruck einer in den modernen
Gesellschaften vorherrschenden Tendenz: des Strebens nach der Gleichheit.
Es gab eine Zeit, in der eine Bauernfamilie das
Getreide, das sie gebaut, die Wollkleider, die sie in ihrer Hütte gewoben,
vielleicht als Früchte ihrer eigenen Arbeit betrachten konnte. Aber selbst
damals war diese Anschauung nicht ganz zutreffend. Es gab damals Straßen und
Brücken - Produkte gemeinschaftlicher Arbeit; Ländereien, wo ehemals Sümpfe
waren, die man durch Kollektivarbeit ausgetrocknet hatte; Gemeindewiesen, von
Hecken umschlossen, an deren Pflege alle mitwirkten. Eine Verbesserung in den
Webinstrumenten oder im Färbungsverfahren der Wollstoffe kam allen zugute; in
dieser Epoche schon konnte eine Bauernfamilie nur unter der Bedingung
existieren, daß sie bei tausend Gelegenheiten Schutz am Dorf oder an der Kommune
fand.
Aber heute, bei einem Zustand der Industrie, wo alles eng verwachsen und
verschlungen ist, wo jeder Produktionszweig sich aller anderen bedienen muß, ist
das Bestreben, den Produkten einen individualistischen Ursprung beizumessen,
etwas Anmaßendes und absolut Unhaltbares. Wenn die Textilindustrie oder die
Metallwarenbranche in den zivilisierten Ländern eine erstaunliche
Vervollkommnung erfahren hat, so verdankt sie es der gleichzeitigen Entwicklung
von tausend anderen großen wie kleinen Industrien; sie verdankt es der
Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, der transatlantischen Schiffahrt, der
Geschicklichkeit von Millionen von Arbeitern, einem gewissen Grade allgemeiner
Kultur in der ganzen Arbeiterklasse, kurz, den gesamten Arbeitsleistungen der
Welt.
Die Italiener, die beim Durchstich des Suezkanals an der Cholera starben oder an
der Gicht im Gotthardtunnel, ebenso die Amerikaner, die scharenweise im
Geschützregen dahinsanken - im Kriege für die Abschaffung der Sklaverei -, haben
zur Entwicklung der Baumwollindustrie in England und Frankreich beigetragen, und
zwar in dem gleichen Maße wie jene Mädchen, die in den Manufakturen von
Manchester und Rouen verkümmern, oder jener Ingenieur, der infolge des
schmerzlichen Eindrucks, den das Bild einer solchen Arbeiterin in ihm
hinterlassen, auf irgendeine Vervollkommnung der Webinstrumente gekommen ist.
Wie will man den Teil abschätzen, der von den Reichtümern, an denen Aufhäufung
wir alle mitarbeiten, auf jeden entfällt?
Wenn wir uns der Produktion gegenüber auf einen allgemeinen vergleichenden
Standpunkt stellen, so können wir uns nicht der Meinung der Kollektivisten
anschließen, daß eine Entschädigung nach der Anzahl der geleisteten
Arbeitsstunden ein Ideal oder auch nur ein Schritt dem Ideal zu ist. Wir wollen
nicht darüber diskutieren, ob sich in der gegenwärtigen Gesellschaft der
Tauschwert der Waren wirklich nach der in ihnen enthaltenen Arbeitsmenge bemißt
- was Smith und Ricardo behauptet haben und was Marx von ihnen übernommen hat;
es genügt mir, unter dem Vorbehalt, später noch einmal darauf zurückzukommen,
hier zu konstatieren, daß das kollektivistische Ideal als uns unausführbar
erscheint in einer Gesellschaft, die die Produktionsmittel als ein allen
überkommenes Erbe ansieht. Basiert man eine Gesellschaft auf diesem letzteren
Prinzip, so wird man sich auch gezwungen sehen, zu gleicher Zeit das ganze
Lohnsystem aufzugeben.
Wir sind der Überzeugung, daß der gemilderte Individualismus des
kollektivistischen Systems unvereinbar ist mit jenem partiellen Kommunismus, den
es in Gestalt des Gemeineigentums an Grund und Boden und an den
Arbeitsinstrumenten aufweist. Eine neue Produktionsform bedingt auch eine neue
Verteilungsform der Produkte. Eine neue Produktionsweise kann ebensowenig, wie
sie sich der alten politischen Organisationsform anpassen konnte, die alte
Konsumtionsform beibehalten.
Das Lohnsystem hat seinen Ursprung in der persönlichen Aneignung des Grundes und
Bodens und der Arbeitsinstrumente durch einige wenige. Es war dies eine
notwendige Bedingung für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Das
Lohnsystem wird mit dieser verschwinden, selbst wenn man es unter der Form von
„Arbeitsbons“ wird vermummen wollen. Der Gemeinbesitz an den Arbeitsinstrumenten
führt notwendig zum gemeinschaftlichen Genuß der aus gemeinsamer Arbeit
stammenden Produkte.
Wir behaupten außerdem, daß der Kommunismus nicht allein wünschenswert ist,
sondern auch, daß die gegenwärtigen Gesellschaften, begründet auf dem
Individualismus, gezwungen sind, sich ständig dem Kommunismus zu nähern.
Die Entwicklung des Individualismus während der letzten drei Jahrhunderte
erklärt sich hauptsächlich aus den Bemühungen des Menschen, sich gegen die Macht
des Staates und des Kapitals zu schützen. Er hatte einen Augenblick geglaubt,
und diejenigen, die seine Ideen predigten, gleichfalls, daß er sich ganz vom
Staate und der Gesellschaft befreien könnte. „Mittels Geldes“, sagte er, „kann
ich alles, was ich brauche, kaufen.“ Aber das Individuum ist fehlgegangen, und
die moderne Geschichte führt es zu der Erkenntnis zurück, daß es ohne das
Zusammenwirken aller nichts vermag, selbst mit seinen Geldspinden voller Gold.
In der Tat: neben dem individualistischen Zug konstatieren wir in der ganzen
modernen Geschichte die Tendenz, einerseits zu erhalten, was von dem partiellen
Kommunismus des Altertums übrig geblieben ist, und anderseits das kommunistische
Prinzip in tausend und aber tausend Kundgebungen des Lebens wieder zur Geltung
zu bringen.
Als es den Kommunen des 10., 11. und 12. Jahrhunderts geglückt war, sich von den
weltlichen oder kirchlichen Herren zu befreien, gaben sie sofort dem Prinzip der
gemeinschaftlichen Arbeit und des gemeinschaftlichen Genusses eine große
Ausdehnung.
Die Stadt - nicht die Privatleute - befrachtete die Schiffe und entsendete die
Karawanen für den fernen Handel. Ihr Ertrag kam allen und nicht einzelnen
Individuen zugute. Die Stadt kaufte auch die Lebensmittel für ihre Bewohner. Die
Spuren dieser Institutionen haben sich bis zum 19. Jahrhundert erhalten, und die
Völker bewahren ihnen noch heute in ihren Legenden ein frommes Andenken.
Dies alles ist verschwunden. Aber die Landgemeinde kämpft noch heute für die
Aufrechterhaltung der letzten Überbleibsel des Kommunismus, und dies stets mit
Erfolg, wenn nicht der Staat ein gewichtiges Wort in die Waagschale wirft.
Zu gleicher Zeit entstehen unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue
Organisationen, basiert auf diesem selben Prinzip: „Jedem nach seinen
Bedürfnissen“, denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus können die gegenwärtigen
Gesellschaften nicht existieren. Trotz der engherzigen egoistischen Richtung,
die der Geist durch die Warenproduktion erhalten hat, offenbart sich die
kommunistische Tendenz alle Augenblicke und bürgert sich in unseren Beziehungen
unter allen möglichen Formen ein.
Die Brücke, für deren Passage einst von den Passanten ein Zoll bezahlt wurde,
ist öffentliches Eigentum geworden. Eine Bezahlung für die Benutzung der
gepflasterten Landstraßen, die ehemals nach Meilen bemessen wurde, besteht nur
noch im Orient. Die Museen, die jedem offenstehenden Bibliotheken, die
unentgeltlichen Schulen, die Speisungen der Kinder auf Gemeindekosten, die
öffentlichen Parks und Gärten, die gepflasterten und erleuchteten Straßen,
jedermann unentgeltlich zugänglich, die Wasserleitung mit der allgemeinen
Tendenz, die Bezahlung nicht nach der konsumierten Quantität zu berechnen - alle
diese und noch viele andere Institutionen sind gegründet auf dem Prinzip:
„Nehmet soviel, wie ihr bedürft!“
Die Eisenbahnen, die Straßenbahnen führen schon monatliche oder jährliche
Abonnementsbillette ein, ohne der Anzahl der Fahrten Rechnung zu tragen; und
kürzlich hat eine ganze Nation - Ungarn - auf ihrem Eisenbahnnetz den Zonentarif
eingeführt, nach welchem die Zurücklegung einer Strecke von 500 oder 1000
Kilometer den gleichen Preis kostet. Von hier ist es nicht mehr weit zum
Einheitspreis, wie er im Postdienst durchgeführt ist. In allen diesen modernen
Errungenschaften und tausend anderen liegt die Tendenz vor, die Konsumtion nicht
zu bemessen. Jener will 1000 Kilometer zurücklegen, ein anderer nur 500. Dieses
sind persönliche Bedürfnisse, und es ist kein Grund dafür vorhanden, den einen
zweimal soviel als den anderen bezahlen zu lassen, weil das Bedürfnis ein
doppelt so großes war. Alle diese Phänomene zeigen sich schon in unseren
heutigen individualistischen Gesellschaften.
Es liegt unbestreitbar, so schwach sie auch noch sein mag, die Tendenz vor, die
menschlichen Bedürfnisse von der Größe der Dienste, die der Mensch der
Gesellschaft geleistet hat oder leisten will, unabhängig zu machen. Man gelangt
dahin, die Gesellschaft als Ganzes zu betrachten, von dem jeder Teil so eng mit
dem anderen verknüpft ist, daß der einem Individuum erwiesene Dienst ein allen
erwiesener Dienst ist.
Wenn ihr in eine öffentliche Bibliothek - nicht die Nationalbibliothek von
Paris, sondern, sagen wir, in die Londons oder Berlins - eintretet, so fragt der
Bibliothekar euch nicht, welche Dienste ihr der Gesellschaft geleistet, um euch
je nach erfolgter Antwort das eine oder die fünfzig erbetenen Bücher zu geben;
und nötigenfalls unterstützt er euch auch, wenn ihr die gewünschten Bücher im
Katalog nicht zu finden versteht. Wenn man ein für alle gleichmäßig bemessenes
Eintrittsgeld erlegt - und sehr häufig ist es eine Steuer in Form einer
Arbeitsleistung, die man jetzt vorsieht -, macht die wissenschaftliche
Gesellschaft ihre Museen, ihre Gärten, ihre Bibliothek, ihre Laboratorien, ihre
jährlichen Feste usw. einem jeden ihrer Mitglieder zugänglich, sei dies ein
Darwin oder ein einfacher Amateur.
Wenn ihr in Petersburg einer Erfindung nachgehen wollt, geht ihr in eine
besondere Werkstatt, wo man euch einen Platz, einen Werktisch, eine Drehbank,
alle notwendigen Werkzeuge, alle Meßinstrumente anweist, vorausgesetzt, daß ihr
sie zu handhaben versteht - dort läßt man euch arbeiten, solange es euch
gefällt. Hier habt ihr Werkzeuge, gewinnet Freunde für eure Idee, vereint euch
mit Kameraden verschiedener Berufe, wenn ihr es nicht vorzieht, allein zu
arbeiten, erfindet die Flugmaschine oder erfindet sie nicht - das ist eure
Sache. Eine Idee leitet euch - das genügt.
Fragt ferner die Bemannung eines Rettungsbootes, die Matrosen eines sinkenden
Schiffes nach ihren Namen? Sie schifft sich ein, wagt ihr Leben in den wütenden
Wogen; sie ertrinkt auch zuweilen, um denen das Leben zu retten, die sie nicht
einmal kennt. - Und warum sollte sie sie kennen? „Man bedarf unserer Dienste; es
sind menschliche Wesen dort; das genügt, ihr Recht auf unsere Hilfe steht fest.
- Retten wir sie!“
Das ist die Tendenz, und zwar eine Tendenz eminent kommunistischer Art, die sich
überall geltend macht, unter allen möglichen Formen, selbst im Schoße unserer
heutigen Gesellschaften, die den Individualismus predigen.
Und wenn morgen eine der großen Städte, sonst so egoistisch gesinnt, von
irgendeinem Unglück heimgesucht wird, einer Belagerung zum Beispiel, so wird
dieselbe Stadt beschließen, daß die Bedürfnisse, die zuerst befriedigt werden
müssen, die der Kinder und Greise sind, und zwar ohne sich zu informieren,
welche Dienste sie der Gesellschaft erwiesen haben oder erweisen werden; und es
gilt, zuerst die Kämpfer zu ernähren und für sie Sorge zu tragen - unabhängig
von der Tapferkeit oder der Klugheit, die ein jeder noch beweisen soll, und
Tausende von Männern und Frauen werden in Selbstverleugnung wetteifern, um die
Verwundeten zu pflegen.
Die Tendenz zum Kommunismus existiert. Sie verschärft sich mit dem Augenblick,
wo die gebieterischen Bedürfnisse eines jeden befriedigt sind, und zwar nach der
Maßgabe, als die Produktionskraft des Menschen wächst; sie verschärft sich noch
mehr mit jedem Male, wo eine große Idee sich an die Stelle der kleinlichen
Sorgen des täglichen Lebens setzt.
Wie kann man also zweifeln, daß an dem Tage, wo die Produktionsmittel sich im
Besitze der Gesamtheit befinden werden, wo die Arbeit eine gemeinschaftliche
sein wird, wo die Arbeit, den Ehrenplatz in der Gesellschaft einnehmend,
produktiver sein wird, als es die Bedürfnisse aller erfordern. Wie kann man
daran zweifeln, daß an jenem Tage diese Tendenz ihre Wirkungssphäre - schon
heute so mächtig - nicht so weit ausdehnen sollte, daß sie zum Fundament des
gesamten sozialen Lebens wird?
Nach diesen Anzeichen und obendrein in Erwägung der praktischen Seite der
Expropriation, die uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen wird, halten wir
es für unsere erste Aufgabe - nachdem die Revolution die Macht, die das heutige
System schützt, gebrochen hat -, sofort den Kommunismus zu verwirklichen.
Doch unser Kommunismus ist nicht derjenige der Phalansterien noch derjenige der
autoritären deutschen Theoretiker. Er ist der anarchistische Kommunismus, der
Kommunismus ohne Regierung - derjenige freier Menschen. Er ist die Vereinigung
der beiden von der Menschheit seit alters her verfolgten Ziele: der ökonomischen
Freiheit und der politischen Freiheit.
II.
Indem wir „die Anarchie“ als Ideal politischer Organisation annehmen,
formulieren wir gleichfalls nur eine zweite ausgesprochene Tendenz der
Menschheit. Jedesmal, wenn es der Entwicklungsgang der europäischen
Gesellschaften erlaubt hat, schüttelten diese das Joch der Autorität ab und
arbeiteten ein System aus, das auf den Prinzipien der individuellen Freiheit
basiert war. Und wir sehen in der Geschichte, daß die Perioden, in denen infolge
partieller oder allgemeiner Empörungen die Regierungen erschüttert waren, die
Epochen eines schnellen Fortschrittes auf ökonomischem wie intellektuellem
Gebiete waren.
Bald ist es die Befreiung der Kommunen, deren Errungenschaften - die Frucht der
freien Arbeit freier Assoziationen - niemals wieder übertroffen worden sind;
bald sind es die Bauernkriege, deren Folge die Reformation war und die das
Papsttum in Gefahr brachten; bald ist es jene Gesellschaft - frei für einen
Augenblick -, die auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans von Männern, die
des alten Europas müde waren, geschaffen wurde.
Und wenn wir die augenblickliche Entwicklung der zivilisierten Nationen
beobachten, so sehen wir, wie sich in nicht mißzuverstehender Weise eine
Bewegung entfaltet, die nicht mit Unrecht beschuldigt wird, die Wirkungssphäre
der Regierung zu beschränken und dem Individuum mehr und mehr Spielraum zu
schaffen. Darin dokumentiert sich die gegenwärtige Evolution, allerdings noch
durch eine Unmasse von Institutionen und ererbten Vorurteilen eingezwängt. Wie
alle Evolutionen wartet auch sie nur auf die Revolution, um das alte hinderliche
Gemäuer zu stürzen, um einen freien Aufschwung in der neuen Gesellschaft zu
nehmen.
Nachdem man lange Zeit vergeblich danach gestrebt hat, das unlösliche Problem zu
lösen: das Problem, sich eine Regierung zu schaffen, „die das Individuum zum
Gehorsam zwingen könne, ohne jemals selbst der Gesellschaft ungehorsam zu
werden“, sucht die Menschheit sich von jeder Art Regierung zu befreien und ihren
Organisationsbedürfnissen auf dem Wege der freien Vereinbarung zwischen den
Individuen und den Gruppen mit gleichen Zielen zu genügen. Die Unabhängigkeit
der kleinsten territorialen Einheit wird ein dringendes Bedürfnis; das
gemeinsame Übereinkommen ersetzt das Gesetz und regelt - über die territorialen
Grenzen hinaus - die Sonderinteressen mit Rücksicht auf ein allgemeines Ziel.
Alles, was man ehemals als Funktion des Staates angesehen hat, wird ihm heute
streitig gemacht: man einigt sich viel leichter und besser ohne seine
Einmischung. Wenn man die Fortschritte, die in dieser Richtung gemacht worden
sind, studiert, so kommt man zu dem Schluß, daß die Menschheit die Tätigkeit der
Regierung auf Null zu reduzieren, das heißt den Staat, diese Personifikation von
Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Monopolbesitz, zu beseitigen bestrebt ist.
Wir können schon eine Welt sehen, in der das Individuum, nicht mehr durch
Gesetze gefesselt, nur noch gesellschaftliche Neigungen haben wird. Diese
Neigungen sind geboren aus dem von einem jeden von uns gefühlten Bedürfnis,
Hilfe und Mitgefühl bei seinen Nachbarn und ein Zusammenarbeiten mit ihnen zu
suchen.
Gewiß, die Idee einer staatslosen Gesellschaft wird eine wenigstens ebenso große
Gegnerschaft finden wie die politische Ökonomie mit einer Gesellschaft, in der
es kein Privateigentum geben soll. Wir alle sind in Vorurteilen von der
Notwendigkeit der Vorsehungs-Funktionen des Staates großgezogen worden. Unsere
ganze Erziehung, vom Unterricht in der römischen Geschichte an bis zur
Einweihung in den corpus Juris, den man unter dem Namen „römisches Recht“
studiert, sowie die verschiedenen auf den Universitäten gelehrten Wissenschaften
haben uns daran gewöhnt, an die Regierung und an die Tugenden des
Vorsehungs-Staates zu glauben.
Philosophische Systeme sind ausgearbeitet und gelehrt worden, um dieses
Vorurteil zu erhalten: Rechtstheorien sind zu dem gleichen Ziele aufgestellt
worden. Die ganze Politik basiert auf diesem Prinzip, und jeder Politiker, von
welcher Farbe er auch sei, wird stets zum Volke sagen: „Gebt mir die Macht, ich
will, ich kann euch von dem Elend befreien, das auf euch lastet.“
Von der Wiege bis zum Grabe stehen wir unter der Herrschaft dieses Prinzips.
Öffnet ein beliebiges Buch der Soziologie, der Jurisprudenz, und ihr werdet
finden, daß die Regierung, ihre Organisation, ihre Handlungen einen derartig
großen Raum einnehmen, daß wir schließlich zu dem Glauben kommen müssen, es gäbe
nichts weiter auf der Welt als Regierungen und Staatsmänner.
Der gleichen Litanei begegnen wir in allen Tonarten in der Presse. Ganze Spalten
sind den Debatten der Parlamente, den Intrigen der Politik gewidmet: das
tägliche, gewaltige Leben einer Nation kommt höchstens in einigen wenigen, einen
ökonomischen Gegenstand behandelnden Zeilen zur Geltung - gelegentlich eines
neuen Gesetzes oder (unter „Verschiedenes“) durch Vermittlung der Polizei. Und
wenn ihr diese Journale leset, so kommt ihr nicht auf den Gedanken, daß es außer
einigen Persönlichkeiten, die alles neben sich in den Schatten stellen, die man
in den Himmel hebt und die nur durch unsere Unwissenheit groß sind, noch eine
unberechenbare Anzahl von Wesen - die ganze Menschheit fast - gibt, die da leben
und sterben, die Schmerzen erdulden, die arbeiten und konsumieren, denken und
schaffen.
Wenn man sich dagegen vom Papier zum Leben selbst wandet, wenn man einen Blick
auf die Gesellschaft wirft, so wird man betroffen von der unendlich geringen
Rolle, welche die Regierung in Wirklichkeit spielt. Balzac hatte schon die
Bemerkung gemacht, wie viele Millionen von Bauern während ihres ganzen Lebens
mit dem Staate nicht in Berührung kommen, ausgenommen, daß sie an ihn drückende
Steuern bezahlen müssen. Jeden Tag werden Millionen von Verträgen ohne die
Intervention der Regierung abgeschlossen, und die größten derselben - diejenigen
im Handel, an der Börse - werden in einer Form abgeschlossen, daß die Regierung
im Falle eines Vertragsbruches nicht einmal angerufen werden kann. Sprecht mit
einem Mann, der des Handels kundig ist, und er wird euch sagen, daß die vielen
Tauschakte, die täglich zwischen den Handeltreibenden stattfinden, ein Ding der
Unmöglichkeit wären, wenn sie nicht auf gegenseitigem Vertrauen basiert wären.
Die Gewohnheit, sein Wort zu halten, der Wunsch, seinen Kredit nicht zu
verlieren, reichen vollständig hin, um diese - wenn auch äußerst relative -
Ehrenhaftigkeit, die Handelsehre, zu bewahren. Derselbe Mann, der nicht
Gewissensbisse empfände, seine Kundschaft mittels unreiner, aber mit prunkenden
Etiketten ausgestatteter Waren zu vergiften, betrachtet es als Ehrensache,
seinen Handelsverpflichtungen nachzukommen. Ja, wenn diese relative Moralität
unter den gegenwärtigen Verhältnissen, unter denen die Bereicherung und abermals
die Bereicherung das einzig treibende Moment ist, sich entwickeln kann - können
wir da zweifeln, daß die Moralität außerordentliche Fortschritte machen wird,
sobald die Aneignung fremder Arbeit nicht mehr die Basis der Gesellschaft
bildet?
Ein anderer überraschender Zug, der besonders unsere Generation charakterisiert,
spricht noch mehr zugunsten unserer Ideen. Es ist das ständige Umsichgreifen von
Unternehmungen, die ihren Ursprung der Privatinitiative und der wunderbaren
Entwicklung von freien Gruppierungen aller Art verdanken. Wir werden davon des
längeren in den Kapiteln, die der „Freien Vereinbarung“ gewidmet sind, sprechen.
Es genüge uns, hier zu sagen, daß diese Gründungen so zahlreich und alltäglich
sind, daß sie eigentlich das Wesen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
ausmachen. Die Schriftsteller des Sozialismus und der bürgerlichen Politik
ignorieren es freilich und ziehen es vor, uns ständig mit den Funktionen der
Regierung zu unterhalten. Diese freien, unendlich variierenden Organisationen
sind ein so natürliches Entwicklungsprodukt, ihre Anzahl wächst so rapid, ihre
Bildung vollzieht sich mit so außerordentlicher Leichtigkeit, sie sind ein so
notwendiges Resultat der ständig wachsenden Bedürfnisse der zivilisierten
Menschen, und sie ersetzen endlich in so vorteilhafter Weise jegliche
Einmischung seitens einer Regierung, daß wir in ihnen einen immer wichtigeren
Faktor des gesellschaftlichen Lebens erblicken müssen.
Wenn sie sich noch nicht über die Gesamtheit der Lebenskundgebungen ausdehnen,
so liegt dies daran, daß sie einem unübersteiglichen Hindernis in dem Elend des
Arbeiters, in dem Kastengeist der gegenwärtigen Gesellschaft, in dem
Monopolbesitz und dem Staate begegnen. Beseitigt diese Hindernisse, und ihr
werdet sie die unermeßliche Domäne der Tätigkeit der zivilisierten Menschen
ausfüllen sehen.
Die Geschichte der letzten fünfzig Jahre hat den schlagendsten Beweis dafür
geliefert, daß die repräsentative Regierung ohnmächtig ist, den Funktionen, die
man ihr andichten wollte, gerecht zu werden. Man wird einst das neunzehnte
Jahrhundert als das Datum der Fehlgeburt des Parlamentarismus bezeichnen.
Aber diese Ohnmacht wird für jedermann so einleuchtend, die Mängel des
Parlamentarismus, die fundamentalen Schwächen des repräsentativen Prinzips
werden so offenkundig, daß einige Denker, die es kritisiert haben (J. S. Mill,
Leverdays), nur der allgemeinen Unzufriedenheit haben Ausdruck geben können. Man
sieht mehr und mehr ein, wie absurd es ist, einige Männer zu wählen und zu
diesen zu sagen: „Macht uns für alle Betätigungen unseres Lebens Gesetze, auch
wenn keiner von euch eine Ahnung von ihnen hat.“ Man beginnt zu begreifen, daß
die Herrschaft der Majoritäten ein Überlassen aller Geschäfte eines Landes an
diejenigen bedeutet, die die Majoritäten für sich zu gewinnen wissen, d. h. an
„die Kröten des Sumpfes“ in der Kammer und in den Kreisversammlungen, mit einem
Wort an diejenigen, die keine Meinung haben. Die Menschheit sucht und findet
neue Wege.
Der Internationale Postverein, die Vereinigung der Eisenbahnen, die
wissenschaftlichen Gesellschaften liefern uns ein Beispiel für die Lösung, die
man auf dem Wege der freien Vereinbarung an Stelle des Gesetzes gefunden hat.
Wenn heute die über alle vier Windrichtungen des Erdballs verstreuten Gruppen
sich zu irgendeinem gemeinsamen Ziele organisieren wollen, so ernennen sie nicht
mehr ein internationales Parlament von Deputierten mit unumschränkter Vollmacht,
zu denen man sagt: „Beschließt Gesetze, wir gehorchen.“ Nein, wenn man sich
heute nicht direkt oder auf dem Wege der Korrespondenz verständigen kann, so
schickt man sachverständige Delegierte zum Verhandeln und sagt diesen:
„Versuchet, euch über diese oder jene Frage zu einigen, und kommt dann zurück -
aber nicht mit einem Gesetz in der Tasche, sondern mit einem
Verständigungsvorschlag, den wir dann annehmen werden oder nicht.“
In dieser Weise handeln die großen industriellen Kompagnien, die
wissenschaftlichen Gesellschaften, die Vereinigungen aller Art, die sich heute
schon über ganz Europa und die Vereinigten Staaten verbreiten. Und in gleicher
Weise wird eine befreite Gesellschaft handeln müssen. Um die Expropriation
durchzuführen, wird es ihr absolut unmöglich sein, sich nach dem Prinzip der
parlamentarischen Repräsentation zu organisieren. Eine auf der Leibeigenschaft
begründete Gesellschaft konnte sich mit der Monarchie abfinden, eine auf dem
Lohnsystem und der Ausbeutung der Massen durch die Kapitalbesitzer basierte
Gesellschaft konnte sich dem Parlamentarismus anpassen. Aber eine freie
Gesellschaft, eine Gesellschaft, die an den Besitz des allen zukommenden Erbes
tritt, muß in der freien Gruppierung, in der freien Föderation der Gruppen eine
neue Organisation finden, eine Organisation, die der neuen ökonomischen Phase
der Geschichte entspricht.
Jeder ökonomischen Phase entspricht eine politische Phase, und es wird unmöglich
sein, an dem Eigentum zu rütteln, ohne zugleich einen neuen Modus des
politischen Lebens zu finden.
Die Expropriation
I.
Man erzählt, daß Rothschild im Jahre 1848, als er sein Vermögen durch die
Revolution bedroht sah, folgende Posse erfand. „Ich will gern zugeben,“ sagte
er, „daß mein Vermögen auf Kosten Anderer erworben ist. Aber verteilt unter
soundsoviele Millionen Europäer, würde auf die Person nur ein Taler entfallen.
Ich verpflichte mich nun, jedem seinen Taler zurückzustellen, falls er ihn
fordern sollte.“
Nachdem er dies erklärt und gehörig publiziert hatte, ging unser Millionär ruhig
in den Straßen Frankfurts spazieren. Drei oder vier Passanten forderten ihren
Taler, und er verabreichte ihnen diesen mit sardonischem Lächeln; und der Zweck
war erreicht: die Familie des Millionärs ist heute noch im Besitz ihrer Schätze.
Einer ähnlichen Logik huldigen jene Schlauköpfe der Bourgeoisie, die uns sagen:
„Ah! die Expropriation? Ich weiß schon: Ihr nehmt allen die Überzieher und legt
sie auf einen Haufen, und Jeder kommt dann, sich einen zu holen. Folge davon? -
Man wird sich um den besten prügeln.“
Es ist dies ein fauler Scherz. Wir werden nicht sämtliche Röcke auf einen Haufen
werfen, um sie alsdann zu verteilen; davon würden die, welche vor Kälte zittern,
kaum einen Nutzen haben. Es handelt sich noch weniger für uns darum, die Taler
Rothschilds zu verteilen. Unser Ziel geht dahin, uns derart zu organisieren, daß
jedes menschliche Wesen, das zur Welt kommt, die Sicherheit hat, erstlich, eine
produktive Arbeit zu erlernen und an ihr Gefallen zu finden, und zweitens, diese
Arbeit leisten zu können, ohne den Grundeigentümer oder Fabrikbesitzer erst um
Erlaubnis zu fragen und ohne an diese den Löwenanteil von seinen Erzeugnissen
abzuführen.
Was die Reichtümer aller Art, die sich in den Händen der Rothschilds und
Vanderbilts befinden, anbelangt, so werden diese uns einzig dazu dienen, unsere
gemeinschaftliche Produktion besser zu organisieren.
An dem Tage, wo der Landarbeiter den Boden wird bestellen können, ohne daß er
die Hälfte seiner Produkte abzugeben hat; an dem Tage, wo die Maschinen, die
notwendig sind, um den Boden für große Ernten ertragsfähig zu machen, im
Überfluß vorhanden sein und den Landwirten zur freien Verfügung stehen werden;
an dem Tage, wo der Arbeiter des Hüttenwerkes für die Allgemeinheit und nicht
mehr für das Monopol produzieren wird, werden die Arbeiter nicht mehr in Lumpen
einherzugehen brauchen, und es wird keine Rothschilds mehr, noch andere
Ausbeuter geben.
Niemand wird es dann mehr notwendig haben, seine Arbeitskraft für einen Lohn zu
verkaufen, der nur einen Teil dessen, was er in Wirklichkeit produziert hat,
repräsentiert.
„Nun gut“, erwidert man uns, „so werden die Rothschilds von außerhalb kommen.
Könnt Ihr es verhindern, daß ein Mann, der sich in China Millionen
zusammengescharrt hat, sich unter Euch niederläßt, Arbeiter gegen Lohn annimmt,
sie ausbeutet und sich auf ihre Kosten bereichert?“
„Ihr könnt doch nicht die Revolution auf der Erde mit einem Male machen. Oder
werdet Ihr etwa Zollschranken an den Grenzen errichten, die Ankömmlinge
durchsuchen und ihnen das Geld, welches sie bei sich tragen konfiszieren? -
Gendarmen, die auf Schmuggler schießen - das wäre eine nettes Bildchen.“
Nun, in diesem Räsonnement steckt ein großer Irrtum. Er besteht darin, daß man
sich niemals gefragt hat, woher denn eigentlich die Vermögen der Reichen
stammen. Eine kurze Überlegung würde den Nachweis erbringen, daß der Ursprung
dieser Vermögen das Elend der Armen ist.
Dort, wo es keine Elenden mehr geben wird, wird es auch keine Reichen mehr
geben, welche sie ausbeuten könnten.
Werfen wir einen Blick auf das Mittelalter, in welchem sich die großen Vermögen
zu bilden anfingen. Ein Feudalbaron hat sich eines fruchtbaren Tales bemächtigt.
Aber so lange diese Ländereien nicht bevölkert sind, repräsentieren sie für
unseren Feudalbaron keinen Reichtum. Sein Grund und Boden liefert ihm keine
Erträge; die Tatsache, Güter auf dem Monde zu besitzen, hätte für ihn den
gleichen Wert gehabt. Was wird er also tun, um sich zu bereichern? Er muß sich
Bauern suchen.
Indessen, wenn jeder Landbebauer ein pachtfreies Stück Land, wenn er außerdem
für die Bestellung die nötigen Gerätschaften und das nötige Vieh hätte, würde er
dann hingehen und die Ländereien des Barons urbar machen? Jeder würde auf seinem
Besitztum bleiben. Aber es gibt ja ganze Bevölkerungen von Elenden. Sie sind
durch Kriege, Dürre und Seuchen an den Rand des Abgrundes gebracht, sie haben
weder Pferd noch Pflugschar. (Das Eisen war teuer im Mittelalter, noch teurer
das Arbeitspferd.)
Alle diese Elenden streben nach besseren Existenzbedingungen. Sie sehen eines
Tages an der Landstraße, an dem Grenzrain der dem Baron gehörigen Ländereien
einen Pfahl mit einem Schilde; auf diesem findet sich in bestimmten
verständlichen Zeichen die Ankündigung, daß der Landarbeiter, der sich auf
diesen Ländereien niederlassen wolle, mit dem Boden zugleich auch die
Arbeitsinstrumente und das Material zum Bau seiner Hütte und zum Bestellen des
Feldes empfangen würde, ohne daß er während einer bestimmten Anzahl von Jahren
einen Grundzins zu bezahlen brauche. Diese Anzahl von Jahren ist auf dem
Grenzpfahl mit eben so viel Kreuzen markiert: der Bauer begreift, was diese
Kreuze bedeuten.
Die Elenden überfluten die Ländereien des Barons. Sie bauen Straßen, trocknen
Sümpfe aus, schaffen Dörfer. Nach neun Jahren vielleicht wird ihnen der Baron
eine Pacht auflegen; nach weiteren fünf Jahren wird er einen im voraus zu
bezahlenden Grundzins erheben, welchen er dann bald wieder verdoppelt, und so
fort! - und der Landbebauer - wird immer diese neuen Bedingungen annehmen, weil
ihm anderwärts nicht bessere geboten werden. Und allmählich, unter Hilfe des von
dem Herrn Baron gemachten Gesetzes, wird das Elend des Bauern eine Quelle des
Reichtums des Edelmannes, und nicht allein des Edelmannes, sondern einer ganzen
Schar von Wucherern, welche sich in den Dörfern niederlassen und sich im
gleichen Maße vermehren, als der Bauer mehr und mehr verarmt.
So ging es im Mittelalter, so geht es heute noch. Wenn es heute freie Ländereien
gäbe, welche der Bauer nach seinem Belieben kultivieren könnte, dann würde er
dem gnädigen Herrn Grafen, der ihm ein Teilchen Landes verkaufen will, nicht 800
Mk. pro Hektar zahlen; noch würde er ihm eine lästige Pacht zahlen, die ihn
eines Drittels dessen beraubt, was er produziert, noch würde er sich zum
Halbbauer hergeben, der die Hälfte seiner Ernte dem Eigentümer überlassen muß?
Aber es gibt deren keine; also muß er alle Bedingungen annehmen, vorausgesetzt,
daß er nur sein kümmerliches Leben bei dem Ackerbau fristen kann; und den Herrn
Edelmann wird er bereichern.
Wie im Mittelalter, ist es auch heute immer noch die Armut des Bauern, welche
den Reichtum des Grundeigentümers bedingt.
II.
Der Eigentümer des Bodens bereichert sich also an dem Elend des Bauern. Ebenso
steht es mit dem industriellen Unternehmer.
Nehmt einen Bourgeois, welcher auf die eine oder andere Weise in den Besitz
eines Vermögens von 500 000 Mk. gekommen ist. Er könnte dieses leicht bei einem
jährlichen Verbrauch von 50 000 Mk. verzehren - eine nicht zu hohe Summe bei dem
phantastischen und unsinnigen Luxus unserer Tage. Aber dann hätte er nichts mehr
nach Verlauf von 10 Jahren. Als „praktischer“ Mann wird er es vorziehen, sein
Vermögen intakt zu erhalten und sich ein kleines, nettes jährliches Einkommen zu
verschaffen.
Es ist doch ein Leichtes in unserer Gesellschaft, wo unsere Städte und Dörfer
von Arbeitern wimmeln, die nicht einmal alle 14 Tage, geschweige denn für einen
Monat zu leben haben. Unser Bourgeois entschließt sich also, eine Fabrik zu
erbauen. Die Bankiers leihen ihm sofort weitere 500 000 Mk. zu diesem Zweck,
namentlich wenn er in dem Ruf steht, „gewandt“ zu sein. Mit seiner Million kann
er jetzt 500 Arbeiter beschäftigen.
Wenn es nun in der Umgebung der Fabriken nur Männer und Frauen gäbe, deren
Existenz gesichert wäre - wer würde da zu unserem Bourgeois arbeiten gehen?
Niemanden würde es einfallen, ihm für einen täglichen Lohn von 3 Mk. Waren im
Werte von 5 oder gar 10 Mk. herzustellen.
Leider wimmeln aber - wir wissen es nur zu gut - die armen Viertel der Stadt und
die benachbarten Dörfer von Tausenden von Männern, deren Kinder vor leeren
Speiseschränken tanzen. Die Fabrik ist noch nicht einmal vollendet, so strömen
schon die Arbeiter herbei, um sich einstellen zu lassen. Bedarf der Bourgeois
nur 100 Arbeiter, so kommen deren 1000. Und wenn die Fabrik erst im Gange ist,
so wird er - falls er nicht ein sehr großer Einfaltspinsel ist - ein hübsches
Sümmchen von 1000 Mk. im Jahre an jedem Mann, der bei ihm arbeitet, verdienen.
Unser Fabrikbesitzer wird sich auf diese Weise ein nettes Einkommen verschaffen.
Und wenn er einen lukrativen Industriezweig erwählt hat, wenn er ein
„Geschäftsmann“ ist, so wird er allmählich seine Fabrik vergrößern und seine
Einkünfte erhöhen, dadurch, daß er die Zahl der Männer, welche er ausbeutet,
verdoppelt.
Dann wird er ein angesehener Mann in seiner Gegend.
Er wird andere angesehene Männer, die Herren Stadträte, den Herren Deputierten
zum Dejeuner einladen können. Er wird sein Vermögen mit einem anderen
verheiraten und später seinen Kindern vorteilhafte Stellungen verschaffen,
endlich irgend welche staatliche Konzession erlangen. Man wird ihm eine
Armeelieferung zuwenden, ihn für die Präfektur vorschlagen; und alle diese
Gelegenheiten wird er natürlich dazu benutzen, sein Vermögen immer mehr nach
oben abzurunden. Und wenn schließlich ein Krieg kommt oder das Gerücht eines
solchen auftaucht, wird er mittels einer Börsenspekulation einen großen Coup
machen.
Neun Zehntel der kolossalen Vermögen in den Vereinigten Staaten (Henry George
erzählt es uns in seinen „Sozialen Problemen“) stammen aus irgend einer großen
Schurkerei, verübt mit der Hilfe des Staates. In unseren europäischen Monarchien
oder Republiken haben sie denselben Ursprung: es gibt eben nur einen Weg, auf
dem man Millionär werden kann.
Die ganze Wissenschaft, reich zu werden, besteht darin, Barfüßler zu finden,
diese mit 3 Mk. zu bezahlen und sie dafür Produkte im Werte von 10 Mk.
fabrizieren zu lassen, auf diese Weise ein Vermögen zusammenzuraffen, und es
dann durch irgend einen großen Coup und unter Hilfe des Staates „abzurunden“.
Ist es noch notwendig, von den kleinen Vermögen zu reden, deren Entstehen von
den Ökonomisten der Sparsamkeit zugeschrieben wird? Man weiß doch nur zu gut,
daß die Sparsamkeit durch sich selbst nichts „einbringt“ und nichts einbringen
kann, solange nicht die „ersparten“ Pfennige zur Ausbeutung von Hungerleidern
verwendet werden.
Betrachten wir uns einen Schuhmacher. Nehmen wir an, daß seine Arbeit gut
bezahlt wird, daß er gute Kundschaft hat und daß er mittels Entbehrungen dahin
gelangt ist, täglich 2 Mk., also monatlich 60 Mk. bei Seite zu legen.
Nehmen wir weiter an, daß er niemals in seinem Leben krank ist, daß er sich
stets satt ißt, trotz seines Eifers, zu sparen, daß er sich nicht verheiratet,
daß er keine Kinder hat, daß er nicht an der Schwindsucht stirbt - nehmen wir
dies alles an!
Nun im Alter von 50 Jahren hätte er noch nicht einmal 15 000 Mk. erspart; und er
würde während seines Alters nicht genug zum Leben haben, falls er arbeitsunfähig
wird. Sicherlich nicht auf diese Weise sammeln sich die großen Vermögen an.
Aber betrachten wir jetzt einmal einen anderen Schuhmacher. Sobald er einige
Pfennige erübrigt hat, legt er sie auf die hohe Kante, und die Sparkasse leiht
sie gegen hohe Zinsen einem Bourgeois, der gerade im Begriff steht, eine
Ausbeutung von Barfüßlern vorzunehmen. Alsdann wird er sich einen Lehrling
nehmen, das Kind irgend eines armen Mannes, welcher sich glücklich schätzt, wenn
sein Sohn nach Verlauf von fünf Jahren das Handwerk erlernt hat und dahin
gelangt ist, seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.
Der Lehrling „verdient“ seinem Meister natürlich etwas und wenn seine Kundschaft
wächst, wird er sich beeilen, einen zweiten Lehrling zu nehmen. Später wird er
sich noch zwei oder drei Arbeiter dazu halten, elende Menschen, welche glücklich
sind, wenn sie für eine Tagesarbeit im Werte von 6 Mk. 3 Mk. beziehen. Und wenn
unser Schuhmacher „Glück“ hat, das heißt, wenn er genügend „gerieben“ ist, so
werden ihm seine Arbeiter und Lehrlinge einige 20 Mk. pro Tag zu seiner eigenen
Arbeit „hinzuverdienen“. Er wird sein Unternehmen vergrößern, allmählich immer
wohlhabender werden und es nicht mehr nötig haben, seinen Lebensunterhalt auf
das gerade Notwendige zu beschränken. Seinem Sohne wird er schließlich etwas
hinterlassen. Das ist es, was man einen „sparsamen und soliden Mann“ nennt. Im
Grunde genommen ist er aber auch weiter nichts, als ein Ausbeuter von
Hungerleidern.
Der Handel scheint eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. „So ein Mann“, sagt
man uns, „kauft Tee in China, importiert ihn nach Frankreich und erzielt auf
sein Anlagekapital einen Gewinn von 30 Prozent. Er hat Niemanden ausgebeutet.“
Und dennoch ist der Fall der gleiche. Wenn unser Kaufmann den Tee auf seinem
Rücken von China nach Frankreich transportiert hätte - alle Ehre! Ehemals, im
Anfange des Mittelalters, betrieb man wohl den Handel auf diese Weise. Aber man
gelangte auch niemals zu den erstaunlichen Vermögen unserer Tage: kaum, daß
damals ein Kaufmann nach einer mühevollen und gefährlichen Reise einige Taler
bei Seite legen konnte. Es war vielfach auch weniger das Verlangen nach Gewinn,
als die Lust am Reisen und an Abenteuern, welche ihn zum Handel drängte.
Heute ist die Methode einfacher. Der Kaufmann, welcher ein Kapital besitzt, hat
es zum Zwecke seiner Bereicherung nicht notwendig, sich aus seinem Kontor zu
rühren. Er telegraphiert an einen Kommissionär die Order, hundert Tonnen Tee zu
kaufen; er befrachtet Schiffe und in wenigen Wochen oder in drei Monaten (wenn
es ein Segelschiff ist) wird ihm die gewünschte Ladung gebracht werden. Er trägt
nicht einmal die Gefahren der Überfahrt - denn sein Tee und sein Schiff sind
versichert. Und wenn er 100 000 Mk. an das Geschäft gewagt hat, so wird er 130
000 Mk. herausziehen, vorausgesetzt, daß er nicht auf einen neuen Handelsartikel
hatte spekulieren wollen, in welchem Falle er sein Vermögen verdoppeln konnte,
aber auch Gefahr lief, es ganz zu verlieren.
Aber wie hat er Menschen finden können, welche sich entschlossen, den Transport
zu bewirken, während dieser Zeit hart zu arbeiten, Strapazen zu ertragen, ihr
Leben für einen mageren Lohn aufs Spiel zu setzen? Wie hat er in den Docks Auf-
und Ablader finden können, welche er gerade so hoch bezahlte, daß sie nicht
während dieser Arbeit vor Hunger starben? Wie kam dies? - Weil diese Laute im
Elend waren! Gehet nach einem unserer Häfen, besuchet die Strand-Cafes und
beobachtet jene Menschen, welche dort nach Arbeit verlangen, welche sich an den
Docktoren schlagen, die sie vom Sonnenaufgang ab belagern, um nur zur Arbeit an
den Schiffen zugelassen zu werden. Sehet Euch auch jene Seeleute an, die
glücklich sind, nach wochen- und monatelangem Warten endlich für eine weite
Reise engagiert zu werden; während ihres ganzen Lebens sind sie von Schiff zu
Schiff gegangen und sie werden deren neue besteigen, bis sie schließlich eines
Tages in den Wellen umkommen.
Tretet in ihre Hütten, betrachtet diese zerlumpten Weiber und Kinder, welche
während der Abwesenheit des Vaters leben, man weiß nicht wie, und ihr habt die
Antwort.
Vermehrt diese Beispiele, wählt sie, wo es euch gut dünkt, denket über den
Ursprung aller Vermögen nach, der großen wie der kleinen, ob sie aus dem Handel,
aus dem Bankwesen, aus der Industrie oder der Landwirtschaft stammen. Überall
werdet ihr konstatieren können, daß der Reichtum der einen aus der Armut der
anderen stammt. Deswegen hat eine anarchistische Gesellschaft keinen Rothschild
zu fürchten, der sich in ihrem Schoße niederlassen wollte. Wenn jedes Glied der
Gesellschaft weiß, daß es nach einigen Stunden produktiver Arbeit ein Recht auf
alle Freuden hat, welche die Zivilisation schafft, auf alle tiefen und wahren
Genüsse, welche die Wissenschaft und die Kunst ihrem Jünger gewährt, so wird er
nicht für einen mageren Bissen Brotes mehr seine Arbeitskraft verkaufen. Niemand
wird jenen Rothschild bereichern. Seine Taler werden Metallstücke sein, nützlich
für verschiedene Verwendungen, aber unfähig, sich zu vermehren.
Mit der Antwort auf den obigen Einwurf haben wir zu gleicher Zeit den Umfang der
Expropriation bestimmt. Die Expropriation soll sich auf alles das erstrecken,
was jemanden - den Bankiers, den Industriellen oder den Landwirt - in Stand
setzen könnte, sich den Arbeitsertrag anderer anzueignen. Diese Forderung ist
einfach und verständlich.
Wir wollen nicht jeden seines Rockes entblößen,
sondern wir wollen den Arbeitern alles das zurückgeben, was ihrer Ausbeutung
Vorschub leisten könnte. Mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften wollen wir
auf einen gesellschaftlichen Zustand hinarbeiten, in dem niemand mehr Mangel
leiden soll, in dem auch nicht ein einziger Mann gezwungen ist, zu seiner und
seiner Kinder Ernährung seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Dies verstehen wir unter der „Expropriation“, und ihre Verwirklichung ist unsere
Aufgabe während der kommenden Revolution, deren Ausbruch wir nicht nach zwei
Jahrhunderten, sondern innerhalb der nächsten Zukunft erhoffen
III.
Die anarchistische Idee im allgemeinen und die der Expropriation im besonderen
finden unter den unabhängigen Charakteren und den Männern, für welche der
Müßiggang nicht das höchste Ideal ist, viel mehr Sympathie, als man glaubt.
„Hütet euch indessen“, entgegnen uns häufig unsere Freunde, „zu weit zu gehen.
Die Menschheit wird sich eines Tages nicht mäßigen können; und wenn ihr zu weit
in euren Forderungen bezüglich der Expropriation und der Anarchie geht, so
könntet ihr Gefahr laufen, etwas zu schaffen, was ohne Bestand ist.“
Nun, was wir hinsichtlich der Expropriation befürchten, ist keineswegs, zu weit
zu gehen. Wir fürchten im Gegenteil, daß die Expropriation sich in zu engen
Grenzen vollzieht, um von Dauer zu sein; daß die revolutionäre Begeisterung auf
halbem Wege schwindet, sich in halben Maßregeln, welche niemanden befriedigen
werden, erschöpft; daß eine halbe Expropriation, die eine gewaltige Umwälzung in
der Gesellschaft und einen Stillstand ihrer Funktionen zur Folge haben würde,
nicht lebensfähig ist, vielmehr allgemeine Unzufriedenheit sät und den Triumph
der Reaktion unvermeidlich macht.
Es haben sich in unseren Gesellschaften tatsächlich derartig enge Beziehungen
herausgebildet, daß eine Änderung in ihnen unmöglich geworden ist - auf dem Wege
von partiellen Reformen. Die verschiedenen Teile unserer ökonomischen
Organisation stehen in solchem unbedingten Abhängigkeitsverhältnis zu einander,
daß man nicht an dem einen eine Änderung vornehmen kann, ohne das ganze in
Mitleidenschaft zu ziehen: man wird diese Beobachtung machen, sobald man einmal
an einer Stelle mit der Expropriation beginnen wird.
Nehmen wir einmal an, daß in irgend einer Gegend
eine teilweise Expropriation vorgenommen wird: daß man sich zum Beispiel - wie
unlängst Henry George gefordert hat - darauf beschränkt, die Großgrundbesitzer
zu expropriieren, ohne zu gleicher Zeit Hand an die Fabriken zu legen; daß man
in irgend einer Stadt die Häuser enteignet, ohne die Lebensmittel als Gemeingut
zu erklären; oder daß man in irgend einem industriellen Landstrich die Fabriken
expropriiert und die großen Güter im Privatbesitz läßt.
Das Resultat wäre stets das gleiche: eine gewaltige
Umwälzung im ökonomischen Leben, ohne die Möglichkeit, es auf neuer Grundlage zu
organisieren; Stillstand in der Industrie, im Handel, ohne Rückkehr zu gerechten
Prinzipien; eine absolute Unmöglichkeit für die Gesellschaft, ein harmonisches
Ganzes zu schaffen.
Wenn der Landarbeiter sich vom Großgrundbesitzer befreit, ohne daß die Industrie
sich vom industriellen Kapitalisten, vom Kaufmann, vom Bankier befreit - nichts
wäre damit geschehen. Der Landmann leidet unter der Gesamtheit der bestehenden
Verhältnisse; er leidet unter dem Tribut, den ihm der Industrielle auferlegt,
indem er ihn 3 Mark für einen Spaten, der - im Verhältnis zur Arbeit des
Landmanns - nur 0,75 Mark wert ist, zahlen läßt; unter den vom Staate erhobenen
Steuern, der einmal nicht ohne eine entsetzliche Beamten-Hierarchie existieren
kann; unter den Unterhaltungskosten der Heere: der Staat hält sie, da sich die
Industriellen der verschiedenen Nationen in fortwährendem Kampfe um die Märkte
befinden, da mit jedem Tag infolge eines Streites wegen der Ausbeutung irgend
eines Teiles von Asien oder Afrika ein Krieg ausbrechen kann.
Der Landmann leidet unter der Entvölkerung des flachen Landes, dessen Jugend
sich von den Fabriken der Großstädte anziehen läßt, sei es durch den Köder
höherer Löhne, die zeitweise von den Fabrikanten der Luxusartikel gezahlt
werden, sei es durch die Annehmlichkeiten des regen, bewegten Großstadtlebens;
er leidet ferner unter der künstlichen Bevorzugung der Industrie, unter der
Ausbeutung der Nachbarländer durch den Handel, unter dem Börsenspiel, unter der
Schwierigkeit, den Grund und Boden und den Werkzeugmechanismus zu verbessern
usw. usw. Kurz, der Ackerbau leidet nicht allein unter der Grundrente, sondern
unter der Gesamtheit unseres gesellschaftlichen Lebens, - das auf der Ausbeutung
beruht. Und wenn die Expropriation Allen nur die Möglichkeit schaffte, den Boden
zu kultivieren und ihn auszunutzen, ohne daß man an jemand Renten zu zahlen
brauchte, so würde - selbst wenn der Ackerbau dadurch einen zeitweisen
Aufschwung erlebte, was noch nicht bewiesen ist - er doch bald wieder in den
Zustand der Auszehrung zurückfallen, in dem er sich heute befindet. Kurz, es
würden sich die gleichen Unzuträglichkeiten einstellen, und zwar noch in
verstärktem Maßstabe.
Dasselbe gilt für die Industrie. Übergebt morgen den Arbeitern die Fabriken;
macht, was man für eine gewisse Anzahl von Bauern getan hat, welche man zu
Eigentümern an Grund und Boden machte. Beseitigt den Fabrikbesitzer, doch laßt
dem „gnädigen Herrn“ das Land, dem Bankier das Geld, dem Kaufmann die Börse,
laßt in der Gesellschaft diese große Schar der Müßiggänger, welche von der
Arbeit des Arbeiters leben, bestehen, behaltet jene Tausende von
Schmarotzerexistenzen bei, den Staat mit seinen unzähligen Beamten - und die
Industrie wird nicht in Fluß kommen. Da man in der Masse der arm gebliebenen
Bauern keine Käufer findet, da man nicht in Besitz der Rohstoffe ist, noch im
Stande ist, die geschaffenen Produkte zu exportieren - zum Teil wegen des im
Handel eingetretenes Stillstands, hauptsächlich wegen der Dezentralisation der
Industrien - so wird die Industrie nur eben vegetieren können, sie wird die
Arbeiter auf dem Straßenpflaster belassen, und diese Bataillone von
Hungerleidern werden stets bereit sein, sich dem ersten besten Intriganten in
die Arme zu werfen oder auch zum alten Regime zurückzukehren, vorausgesetzt, daß
es ihnen nur Arbeit garantiert.
Oder endlich auch: expropriiert die Grundeigentümer und übergebt den Arbeitern
die Fabriken, ohne jedoch die Expropriation auf die Scharen von
Zwischenpersonen, welche heute in den großen Zentren auf Mehl, Getreide, Fleisch
und Gewürze spekulieren und gleichzeitig die Produkte unserer Manufaktur in
Umlauf bringen, auszudehnen. Nun, sobald der Handel stockt und die Produkte
nicht mehr zirkulieren, sobald Paris des Brotes ermangelt und sobald Lyon keine
Käufer mehr für seine Seidenwaren findet, in demselben Augenblick wird die
Reaktion wieder kommen und furchtbar hausen. Über zahllose Leichname wird sie
dahinschreiten, die Mitrailleuse wird in den Städten und Dörfern ihr blutiges
Werk verrichten und Orgien von Hinrichtungen und Deportationen, wie in den
Jahren 1815, 1848 und 1871, werden die Folge sein.
Alles steht in unseren Gesellschaften in inniger Verknüpfung, und es ist
unmöglich, an irgendeiner Stelle eine Reformation eintreten zu lassen, ohne das
Ganze dadurch zum Sturz zu bringen. An dem Tage, wo man das Privateigentum in
einer seiner Erscheinungsformen - in der landwirtschaftlichen oder industriellen
- treffen wird, wird man gezwungen sein, es auch in allen anderen zu treffen.
Der Erfolg der Revolution wird hiervon abhängen.
Im Übrigen könnte man sich nicht, selbst wenn man es wollte, auf eine partielle
Expropriation beschränken. Ist einmal das Prinzip des heiligen Eigentums
erschüttert, so werden es die Theoretiker nicht verhindern können, daß es auch
ganz beseitigt wird, hier durch die Sklaven der Scholle, dort durch die Sklaven
der Industrie.
Wenn eine große Stadt - Paris zum Beispiel - Hand an
die Häuser oder die Fabriken legt, so wird sie durch die Macht der Ereignisse
selbst dahin geführt werden, auch den Bankiers das Recht abzuerkennen, von der
Kommune 50 Millionen Francs Steuern in Form von Zinsen für früher geliehene
Gelder zu erheben. Sie wird gezwungen sein, sich mit den Landleuten in
Verbindung zu setzen, und sie wird diese dazu treiben müssen, sich von dem Herrn
des Bodens zu befreien. Um essen und produzieren zu können, bedarf sie der
Eisenbahnen; und um die Verschwendung von Lebensmitteln zu verhüten und um
nicht, wie die Kommune im Jahre 1793, auf die Gnade der Getreidespekulanten
angewiesen zu sein, wird Paris seinen eigenen Bürgern die Sorge übertragen, ihre
Magazine mit Lebensmitteln zu versehen und die Produkte zu verteilen.
Einige Sozialisten haben indessen noch folgenden Unterschied zu machen versucht.
- „Man möge den Grund und Boden, die Bergwerke, die Fabriken, die Manufakturen
expropriieren, - ganz unsere Meinung“ sagten sie. „Dies alles sind
Produktionsmittel und es ist nur gerecht, sie als unser Eigentum zu betrachten.
Aber es gibt außerdem Verbrauchsgegenstände: die Nahrungsmittel, die Kleidung,
die Wohnung, - diese müssen Privateigentum bleiben.“
Der gesunde Menschenverstand des Volkes hat Recht, wenn er diesen Unterschied
spitzfindig bezeichnet. In der Tat, wir sind keine Wilden, die im Walde unter
einem Dach von Zweigen leben können. Der arbeitende Europäer bedarf eines
Zimmers, eines Hauses, eines Bettes, eines Herdes.
Das Bett, das Zimmer, das Haus sind Orte des Nichtstuns für denjenigen, der
nichts produziert. Aber für den Arbeiter ist ein geheiztes und erleuchtetes
Zimmer ebenso gut Produktionsmittel, wie die Maschine oder das Werkzeug. Es ist
der Ort der Erholung seiner Muskeln und Nerven, deren er morgen wieder bei der
Arbeit bedarf. Die Ruhe des Produzenten bedeutet den Gang der Maschine.
Noch augenscheinlicher ist dies bei der Nahrung. Die sogenannten Ökonomisten,
von denen wir sprechen, haben niemals daran gedacht, zu sagen, daß die in einer
Maschine verbrennende Kohle nicht unter die Gegenstände zu rechnen sei, die für
die Produktion ebenso unentbehrlich als die Rohstoffe sind. Und wie käme man nun
dazu, die Nahrung, ohne welche die menschliche Maschine nicht die geringste
Kraftleistung vollbringen könnte, von den für den Produzenten unbedingt
notwendigen Gegenständen auszuschließen? Wäre dies nicht ein Rest religiöser
Metaphysik?
Die überreichliche und raffinierte Mahlzeit des Reichen mag wohl ein
Luxusgegenstand sein. Aber die Mahlzeit des Produzenten ist eines der für die
Produktion notwendigen Gegenstände, ebenso wie die Kohle, die in der
Dampfmaschine verbrennt.
Ebenso steht es mit der Kleidung. Wenn die Ökonomisten, welche diesen
künstlichen Unterschied zwischen den Produktions- und Konsumtionsgegenständen
machen, das Kostüm des Wilden von Neu-Guinea tragen würden - so würden wir diese
Vorbehalte begreifen. Aber diese Männer, welche nicht eine Zeile schreiben
könnten, ohne ein Hemde am Leibe zu haben, sind nicht dazu berufen, einen so
großen Unterschied zwischen ihrem Hemde und ihrer Feder zu machen. Und wenn die
aufgeputzten Kleider ihrer Frauen Luxusobjekte sind, so gibt es eine Quantität
Leinwand, Baumwolle, deren der Produzent für die Produktion nicht entraten kann.
Die Bluse und die Schuhe, ohne welche der Arbeiter sich schämen würde, zur
Arbeit zu gehen; der Rock, den er nach beendigter Arbeit anlegt, seine Mütze
sind ihm ebenso notwendig, wie der Amboß und der Hammer.
Ob man will oder nicht will, das Volk versteht nur so die Revolution. Sobald es
einmal die heutige Herrschaft hinweggefegt haben wird, wird es vor allem sich
einer gesunden Wohnung, einer hinlänglichen Nahrung and der Kleidung zu
versichern suchen, und zwar, ohne einen Tribut zu zahlen.
Und das Volk wird Recht damit haben. Diese seine Handlungsweise wird den
Ergebnissen der Wissenschaft unendlich gleichförmiger sein, als diejenige der
Ökonomisten, welche so große Unterschiede zwischen Produktions- und
Konsumartikel machen. Es wird begreifen, daß die Revolution gerade bei diesen
letzteren anzufangen hat; und es wird so die Grundlagen zu einer ökonomischen
Wissenschaft legen, welche allein auf den Namen Wissenschaft Anspruch machen
kann und welche man bezeichnen könnte als das „Studium der menschlichen
Bedürfnisse und der ökonomischen Mittel, diese zu befriedigen.“
Entnommen von Anarchismus.at
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