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Augustin Souchy
Betriebsräte und Syndikalismus
„Durch die Revolution in Rußland und Mitteleuropa zum Durchbruch gekommen,
verbreitete sich die Räteidee wie ein Lauffeuer, später jedoch wurde sie immer
mehr zurückgedrängt, und heute ist nur noch die Erinnerung an die Arbeiter-,
Soldaten- und Bauernräte zurückgeblieben. Die alten Autoritäten setzten sich mit
Hilfe der Sozialdemokraten wieder fest, die Massen glaubten an die neuen Männer,
ließen sich betören und von der Idee ablenken, durch eigene Kraft und eigene
Organe die neue soziale Ordnung ganz ohne den bürgerlichen Staat aufzubauen. In
Rußland, wo die Sowjet- oder Räterepublik sich durchsetzte, verloren die Räte
durch die spätere Alleinherrschaft der kommunistischen Partei an Bedeutung und
Einfluß, und heute besteht das Räterußland nur noch dem Namen nach, die Arbeiter
und Bauern haben trotz ihrer schattenhaften Reste von Räten so wenig zu sagen
wie in jedem anderen Lande. Selbst die Betriebsräte sind in Rußland vollständig
in der Hand der kommunistischen Zelle eines Betriebes.
In Deutschland war die Idee der Arbeiterräte so populär geworden, daß die
Regierung sich gezwungen fühlte, ein Gesetz anzunehmen, durch welches die
Betriebsräte als feststehende Einrichtung anerkannt wurden und Funktionen
übernahmen, wodurch die Rechte der Unternehmer beschnitten und den Arbeitern
Mitbestimmungsrecht im Produktionsprozeß eingeräumt werden sollte.
Diese sogenannte ‚gesetzliche Verankerung’ der Räteidee, ein Knochen, der von
der herrschenden Klasse den Arbeitern hingeworfen wurde, um sie (zu) beruhigen.
In diesem Zusammenhange ist es am Platze, auf die Wertlosigkeit der
Arbeitergesetzgebung hinzuweisen, deren Mutterland Deutschland ist. Eine
fünfzigjährige Erfahrung hat das revolutionäre Proletariat gelehrt, daß die
soziale Gesetzgebung den Weg zur sozialen Befreiung nicht ebnet, sondern ihn
verbaut. Das Proletariat wird dadurch in die Illusion gewiegt, daß es vom Staate
etwas erwarten könne, die sozialdemokratische Auffassung vom ‚freien
Volksstaate’ bekommt neue Nahrung. Auf der anderen Seite wird der Glaube und das
Vertrauen an die eigene Kraft in demselben Maße geschwächt, wie die Hoffnung auf
die Macht des Staates sowie der Glaube an dessen Sorge für seine Untertanen
gestärkt wird. Und gerade dieses Vertrauen, das in letzter Instanz im Glauben an
übernatürliche Mächte, den die theokratische Grundlage der sozialen Ordnung
wurzelt, ist der größte Hemmschuh für die Entwicklung der freiheitlichen
Gesellschaft.
Da gerade bei uns in Deutschland die Ideen des Staatssozialismus am meisten
kultiviert worden sind, so haben auch wir Syndikalisten die Gefahren und
Auswüchse dieser Doktrin am besten kennen gelernt. So hat die FAUD auf ihrem 14.
Kongreß zu Erfurt in einer Resolution zu den gesetzlichen Betriebsräten im
ablehnenden Sinne Stellung genommen, es jedoch ihren einzelnen Mitgliedern
überlassen, sich daran zu beteiligen. Eine offizielle Beteiligung der FAUD an
den Betriebsräten wurde abgelehnt. Diese Ablehnung stützt sich nicht nur auf
einige besonders krasse Paragraphen des Betriebsrätegesetzes, wonach
Betriebsräte bei Übertretung ihrer Befugnisse zu Gefängnisstrafen verurteilt
werden können, obgleich auch das ein Grund zur Ablehnung wäre. Die revolutionäre
Arbeiterschaft hat aber mehr als einmal erfahren müssen, daß die gesetzlichen
Betriebsräte zu Werkzeugen des Unternehmertums geworden sind, anstatt die
Interessen ihrer Klassengenossen zu vertreten. Anzeichen hierfür haben sich
schon bei den ersten Betriebsräten gezeigt, die ins Leben traten, noch ehe das
Betriebsrätegesetz geschaffen war. Die Unternehmer suchten die Betriebsräte
durch höfliches Entgegenkommen und durch Bevorzugung ihrer Wünsche zu bestechen.
Wenn die Belegschaften nicht wachsam über ihre gewählten Betriebsräte sind und
jedes Abweichen vom revolutionären Wege durch geeignetere Kameraden ersetzen,
dann wird auch der Betriebsrat vor Korruption nicht bewahrt bleiben. Dieser
intime Kontakt und die Identifizierung des Betriebsrates mit der Belegschaft
wird durch die gesetzlichen Betriebsräte nicht gewährleistet, da diese staatlich
zugelassene Funktionäre sind, die im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen sich
selbst als eine Art Beamten fühlen und gerade durch ihre Gesetzlichkeit von dem
Nimbus der staatlichen Autorität umgeben werden.
Gewiß wird ein wahrhaft revolutionärer Arbeiter durch seine Funktion als
Betriebsrat niemals zu einem Unternehmerknecht werden, noch wird ihn die
Gesetzlichkeit bestechen können. Unsere Genossen in den Betrieben können aber so
manches Lied davon singen, wie viel Betriebsräte sich als gesetzlich patentierte
Beamten dünken, und bei dem Obrigkeitsfimmel und der Autoritätsgläubigkeit des
Deutschen ist die Einführung gesetzlicher Funktionen in die Arbeiterbewegung mit
besonderer Vorsicht aufzunehmen.
Die Ablehnung an der Teilnahme der gesetzlichen Betriebsräte bedeutet aber nicht
die Verwerfung der Betriebsräte überhaupt. Der Gedanke, daß durch die Räte,
durch die Betriebsräte in erster Linie, in weiterer Ausdehnung durch Bezirks-
und Landesarbeiterräte die Arbeiterschaft sich größeren Einfluß verschaffen und
sich schließlich dadurch in den Stand setzen könne, die Alleinherrschaft der
Kapitalisten zu verdrängen, die Demokratie, die heute nur in der Politik
besteht, in die Wirtschaft überzuführen, hat bei breiten Arbeitermassen festen
Fuß erfaßt. In dieser Form werden die Betriebsräte auch von den reformistischen
Gewerkschaften und von der Sozialdemokratie vertreten.
Die Verbände der Roten Gewerkschaftsinternationale sehen in den Betriebsräten
Zellen der kommunistischen Partei, deren Aufgabe darin besteht, die
Arbeiterschaft der Betriebe für die Ziele der Partei zu gewinnen. Über diesen
Rahmen hinaus liegt den kommunistischen Betriebsräten höchstens noch ab, nach
Besitzergreifung der Staatsmacht durch die Partei oder das Direktorium der
Partei die erteilten Befehle auszuführen, wie es ja auch schon heute ist.
Wer aber wirklich revolutionäre Betriebsräte erstrebt, die brauchbare Werkzeuge
im Klassenkampf sein und vorbereitende Arbeit für die soziale Revolution machen
sollen, der wird von den bürgerlichen Gesetzen unabhängige Betriebsräte
erstreben. Gerade wir Syndikalisten, die wir nichts vom Staate erwarten, sondern
der Meinung sind, daß die soziale Revolution in allen Adern des wirtschaftlichen
Lebens, in der Peripherie wie im Zentrum zu gleicher Zeit von den schaffenden
Kräften des werktätigen Volkes durchgeführt werden muß, können uns eine Lösung
der Frage der Verwaltung in den Betrieben nur durch die Arbeiter des Betriebes
selbst vorstellen, da die Arbeiter am besten wissen, wer unter ihnen am
fähigsten und geeignetsten ist. Die Idee der Betriebsräte bekommt für uns
Syndikalisten einen ganz anderen Sinn als bei den Sozialdemokraten und
Kommunisten. Wir stecken die Ziele der Betriebsräte weit höher. Während bei
Reformisten und Kommunisten den Räten keine selbständige Aufgabe zufällt,
sondern sie nur auszuführen haben, was ihnen Partei und Gewerkschaft auferlegen,
sehen wir Syndikalisten in den Betriebsräten nicht nur die ausführenden Organe
einer höheren Macht, sondern mit Initiative versehene und selbständig wirkende
Kräfte der revolutionären Arbeiterbewegung, die neben dem direkten Kampf auf dem
Arbeitsplatze gegen den Unternehmer sich auch für die Übernahme der Produktion
vorbereiten müssen die sie in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu
leiten haben.
Es hat uns der Verlauf der Revolutionen gezeigt, daß sich am Tage ihres
Ausbruches neue Organe bilden, die unter verschiedenen Namen auftreten, im Wesen
aber dasselbe sind. Ohne auf die Revolutionen der Vergangenheit einzugehen, sei
erinnert, daß sich im Laufe der revolutionären Ereignisse in Deutschland, zuerst
beim Ausbruch der Novemberrevolution, revolutionäre Räte und Obleute bildeten,
die noch bis zum Sommer 1919 hinein bestanden haben, daß auch noch später bei
anderen revolutionären Ereignissen, wie z.B. beim Kapp-Putsch, also zu einer
Zeit, als schon die gesetzlichen Betriebsräte bestanden haben, sich neue
revolutionäre Arbeiterräte bildeten, die aus den Massen selbst entstanden. Diese
revolutionären Obleute aus den Betrieben sind spontane Organe der Revolution,
und sie werden die ersten Träger jeder zukünftigen Revolution sein, die noch
während des Zusammenbruches der alten Weltordnung die Elemente der neuen in
ihren ersten Anfängen aufbauen.
Sollen wir Syndikalisten in Erwartung der kommenden Revolution und im Vertrauen
auf die durch eine Revolution spontan zur Entfaltung kommenden Kräfte die
Bildung von revolutionären Betriebsräten heute vollständig ablehnen? Mitnichten.
Der Syndikalismus begnügt sich sonst nicht damit in Erwartung der sozialen
Revolution die Hände in den Schoß zu legen, er will auch heute die Solidarität
in der Arbeiterschaft wecken und den Kampf für die Hebung der Lage des
Proletariats führen. Dazu sind neben den gewerkschaftlichen Organisationen
Vertrauensleute in den Betrieben notwendig. Diese Vertrauensleute sind aber
nichts anderes als die Betriebsräte.
Nun gibt es freilich in der Arbeiterbewegung Strömungen, die einen Unterschied
machen zwischen den Vertrauensleuten der Gewerkschaften in den Betrieben und den
Betriebsräten. Die Bewegung der Shop-Stewards-Councils in England, die heute
freilich nicht mehr besteht, und die Betriebsorganisation in Deutschland, die
einen sehr geringen Wirkungskreis hat, und, obzwar ein Kind der Revolution,
heute schon wieder sichtbar im Rückgang ist, diese beiden Bewegungen sind
organisatorisch von allem Anfang an nur auf Betriebsräte aufgebaut. Diese
Bewegungen entstanden in den Betrieben und wuchsen erst von da aus zu lokalen,
dann zu bezirksweisen Zusammenschließungen heran.
Sie sehen in den Vertrauensleuten der Gewerkschaften etwas ganz anderes als
selbständige Betriebsräte. Wenn man die reformistischen Amsterdamer oder
zentralistischen Moskauer Gewerkschaften hierbei im Auge hat, dann sind die
Kameraden der reinen Betriebsrätebewegung wohl im Rechte. Das ändert sich aber
indem Augenblick, wo es sich um revolutionär-syndikalistische Gewerkschaften
handelt, die als wichtigsten Grundsatz die Selbstbestimmung aufstellen und ihren
Mitgliedern volles Selbstbestimmungsrecht gewährleisten. Dagegen würde eine
Betriebsräte- oder Shop-Steward-Councilbewegung, die sich zentralistisch
aufbaut, den Betriebsräten der einzelnen Betriebe weniger Selbständigkeit
gewähren wie die föderalistischen Gewerkschaften der Syndikalisten, und in
diesem Falle würden sich diese zentralistischen Betriebsräteorganisationen den
zentralistischen Amsterdamern oder Moskauern wohl mehr nähern und das Ideal der
selbständigen Betriebsräte dadurch verloren gehen.
Wenn also die Syndikalisten die Betriebsräte grundsätzlich anerkennen, dann
dürfen sie die Schaffung derselben nicht der kommenden Revolution überlassen.
Mag diese Revolution sich neue Organe schaffen, die heutige Zeit erfordert
Vertrauensleute oder Betriebsräte in den Betrieben. Und wenn diese Betriebsräte
ernsthaft die Interessen der Arbeiterschaft wahrnehmen, dann werden sie eine
bedeutende Mission in Gegenwart und Zukunft erfüllen. Die Arbeiter werden aber
auch bei Ausbruch einer Revolution sich an die Organe erinnern, die in
Vergangenheit und Gegenwart das Befreiungswerk des Proletariats vorbereiten
halfen.
Die Kommunisten haben ebenfalls die Bedeutung der Betriebsräte für den
revolutionären Tageskampf sowie für den endgültigen Entscheidungskampf der
Arbeiterschaft eingesehen. Da sie aber den Staat anerkennen und eine
parlamentarische Partei sind, so nehmen sie natürlich auch Anteil an den
gesetzlichen Betriebsräten. Diese wollen sie zu gefügigen Werkzeugen ihrer
Parteipolitik machen. Hierin liegt eine Gefahr für die revolutionäre
Arbeiterschaft, und deshalb muß der kommunistischen Propaganda die des
revolutionären Syndikalismus entgegengesetzt werden.
Das kann am erfolgreichsten geschehen, wenn wir freie Betriebsräte schaffen, die
von den gesetzlichen vollständig unabhängig sind.
Die Aufgaben dieser freien Betriebsräte müssen mannigfaltig sein. Sie müssen in
den Betrieben, bei Betriebsversammlungen und bei sonstigen Gelegenheiten die
Ideen des revolutionären Syndikalismus vertreten, dem Wirken der
Parteipolitikanten und deren Anhängern entgegentreten und sich selbst für die
Übernahme und technische Leitung der Betriebe vorbereiten sowie die
Arbeiterschaft immer und immer wieder auf dieses große Endziel der
Arbeiterbewegung aufmerksam machen.
Wenn es uns gelingt, in diesem Sinne an dem Aufbau und Ausbau der revolutionären
Betriebsräte zu arbeiten, dann werden wir die Gewißheit haben, daß bei einer
Besetzung der Betriebe, wie sie beispielsweise in Italien erfolgte, die
Arbeiterschaft im Vertrauen auf ihre eigene Macht und Stärke den Kampf
erfolgreich bestehen kann.
Das schwierigste Werk der sozialen Revolution ist nicht die Eroberung oder
Besetzung der Betriebe, jener wirtschaftlichen Zellen, auf denen sich die
gesamte soziale Ordnung unseres industriellen Zeitalters aufbaut, sondern die
Verwaltung derselben.
Die soziale Revolution, die wir Syndikalisten erstreben und durchführen wollen,
ist eine wirtschaftliche Revolution. Sie setzt nicht ein bei der Eroberung der
Staatsmacht, der Besetzung der Ministerposten und hohen Staatsämter, das
überlassen wir den politischen Parteien. Wir erblicken vielmehr in den
landwirtschaftlichen, industriellen und gewerblichen Betrieben die Zellen, auf
denen sich die gesamte soziale Ordnung unseres Zeitalters aufbaut. Die Eroberung
und Verwaltung dieser Zellen, der Betriebe, ist die wichtigste Aufgabe der
Revolution. Während die Eroberung die Sache eines Handstreiches sein kann, liegt
gerade in der sofortigen geregelten Verwaltung, in der ununterbrochenen
Fortsetzung der Produktion, in der Heranschaffung der Rohmaterialien, in der
Aufrechterhaltung der Verkehrsmittel, in der raschen Weiterbeförderung und
Verteilung der erzeugten Güter der Angelpunkt der sozialen Revolution. Diese
kann als gelungen bezeichnet werden und die Konterrevolution wird die geringsten
Aussichten haben, wenn die wirtschaftliche Seite der Revolution sofort in die
Augen springende Erfolge, sichtbar für die gesamte Bevölkerung, aufzuweisen hat.
Dann wird eine solche Revolution bei weitem nicht den Aufwand auf die
Verteidigung gegen die Konterrevolution nötig haben, wie eine Revolution, die
den von den Staatskommunisten gezeichneten Weg durch Eroberung der Staatsmacht
geht.
Wenn ein solcher Verlauf der Revolution ermöglicht werden soll, wie wir
Syndikalisten ihn erstreben, dann müssen wir in den Betrieben der
landwirtschaftlichen, industriellen und gewerblichen Unternehmungen
syndikalistische Betriebsräte organisieren, die sich für ihre gewaltigen
Aufgaben vorbereiten und heute schon durch tatkräftiges Eintreten im
Klassenkampfe sich die Sympathien der Arbeiterschaft zu gewinnen suchen.“
Aus: „Die Internationale“, Nr. 1, S. 61-65/1924, abgedruckt in: FAU-Bremen
(Hg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006
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