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Augustin Souchy
Der Syndikalismus und die Kollektivverträge
„In mehreren Ländern haben sich die syndikalistischen Organisationen zur Zeit
mit den Kollektivverträgen zu beschäftigen. Da die reformistischen
Gewerkschaften die Arbeiterbewegung monopolisieren wollen, müssen sich die
revolutionär-syndikalistischen Gewerkschaften dagegen wehren. In vielen Ländern
sind die Verhältnisse ähnlich gelagert. Das Sekretariat der IAA hat auf Wunsch
der schwedischen Genossen eine Rundfrage über die Stellung der Syndikalisten zu
den Kollektivverträgen bei allen Sektionen der IAA veranstaltet. Die Ergebnisse
dieser Rundfrage und das hierbei gesammelte Material werden wir in eigenen
fortlaufenden Artikeln, die dieser Einleitung folgen, veröffentlichen
Die Redaktion
Die syndikalistische Bewegung unterscheidet sich in Zielsetzung, Kampfesmethoden
und Taktik von den reformistischen Gewerkschaften. Während diese bestrebt sind,
mit den bestehenden Mächten von Staat und Kapitalismus in Frieden zu leben und
in Verfolgung dieser Friedenspolitik mit den Unternehmern Arbeitsgemeinschaften
bilden und langfristige Kollektivverträge abschließen, rücken jene stets den
Gedanken des kompromißlosen Klassenkampfes in den Vordergrund. Die Syndikalisten
aller Länder sind Gegner langfristiger Kollektivverträge, und die täglichen
Erfahrungen erweisen ihren Standpunkt immer wieder als richtig. Die Reformisten
aller Länder sind für langfristige Kollektivverträge, und sie treten in den
letzten Jahren sogar für die internationale Anerkennung ihrer Politik durch die
kapitalistischen Staaten ein. Das Internationale Arbeitsamt soll ihnen dazu
verhelfen, alle Staaten zur Ratifizierung gewisser Arbeiterforderungen zu
veranlassen.
Der Abschluß von freiwilligen Kollektivverträgen zwischen Arbeitern und
Unternehmern ist nur möglich, wenn die Arbeiter sich zu diesem Zwecke
vereinigen. Die Arbeiterorganisation ist also Voraussetzung für die Schaffung
von Kollektivverträgen, sie ist jedoch nicht gleichbedeutend mit denselben,
ebenso wenig wie die Ablehnung der Kollektivverträge die Ablehnung der
Gewerkschaften bedeutet.
Gegenüber den individuellen Abmachungen zwischen dem Arbeiter und Unternehmer
ist die Festsetzung von Kollektivverträgen für die Arbeiterschaft ein
Fortschritt. Vereinzelt sind die Arbeiter der Willkür des Ausbeutertums
ausgeliefert. Sie haben sich daher organisiert, um auf diesem Wege durch die
Organisation höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen zu
erkämpfen. Das Unternehmertum wendet sich gegen diese Bestrebungen und bekämpft
rücksichtslos die Arbeiterorganisationen. Der Kampf um das Koalitions- oder
Vereinigungsrecht war in allen Ländern hart und dauert teilweise noch bis in die
jüngste Zeit hinein. Es gibt Länder, die heute noch nicht – oder nicht mehr –
die Vereinigungsfreiheit der Arbeiter anerkennen wollen. Es läßt sich auch
nachweisen, daß überall, wo die Koalitionsfreiheit nicht besteht, die Lage des
Proletariats schlechter ist als in den Ländern mit Koalitionsfreiheit. Es
besteht also zwischen Koalitionsfreiheit und der Lage der Arbeiterschaft ein
unverkennbarer Zusammenhang.
Die Hebung der Lage der Arbeiterschaft ist auf den organisierten Kampf der
Arbeiterorganisationen zurückzuführen. Dagegen wäre es absolut falsch, die
Errungenschaften des Proletariats auf das Konto von Kollektivverträgen zu
setzen. Das Bestreben der reformistischen Arbeiterorganisationen, das heute fast
ausschließlich auf den Abschluß von möglichst langfristigen Tarifverträgen
ausgeht, hat jedoch die falsche Annahme von der Wundertätigkeit der
Kollektivverträge zur Voraussetzung. Nicht der Abschluß der Kollektivverträge an
sich, sondern der vorausgegangene Kampf, die Macht und der Einfluß, den die
Arbeiterorganisationen auf das Unternehmertum auszuüben vermögen, sind die
wichtigsten Faktoren bei dem Fortschritt der Arbeiterschaft. Die
Kollektivverträge sind nur der formale Ausdruck, in welchen die Ergebnisse eines
Arbeitskampfes zusammengefaßt werden. Leider legen die reformistischen
Gewerkschaften auf diesen Formalismus einen größeren Wert als auf die realen
Machtverhältnisse im Hintergrunde; sie ziehen stets Verhandlungen und Abschluß
von Verträgen dem offenen Kampfe vor. Sie ziehen sogar den Staat zu Hilfe, der
ihnen die Vermeidung von Kämpfen durch gesetzlich verbindliche Schiedssprüche
ermöglichen soll.
Es kann nicht geleugnet werden, daß dadurch der Sinn der Arbeiterbewegung in
sein Gegenteil gewandelt wird. Bei der zahlenmäßigen Überlegenheit der
reformistischen Gewerkschaften wird durch diese Politik sogar die
Koalitionsfreiheit zu eine Farce. Nach gesetzlicher Verbindlichkeitserklärung
von Tarifverträgen, die durch Schiedssprüche aufgezwungen werden, sind
revolutionäre Minderheiten der Arbeiterbewegung zwangsläufig in ihrer Tätigkeit
gehindert, und das vielgerühmte Koalitionsrecht wird zur Illusion.
Es ging hier dem Proletariat wie es den unterdrückten Klassen oft im Kampfe um
ihre Freiheit ging. Die Forderung um die Koalitionsfreiheit wurde erfüllt und
gesetzlich durch ein Koalitionsrecht festgelegt. In allen bürgerlich-liberalen
Staaten existiert heute ein solches Vereinsgesetz. Durch die Anteilnahme der
Arbeiterparteien an dem Parlamentarismus und später sogar an den Regierungen
verstanden sie es, die reformistischen, gesetzestreuen Gewerkschaften zu
privilegieren. Das Koalitionsrecht schlug in einen Koalitionszwang um, die
Arbeiter sollen gezwungen werden, sich den Gewerkschaften anzuschließen, die die
Regierungen, in denen Sozialdemokraten sitzen oder in die sie zu kommen
gedenken, anerkennen und die sich mit den bestehenden Verhältnissen ausgesöhnt
haben. Die revolutionären Organisationen dagegen, deren Ziel die Beseitigung der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der Lohnknechtschaft ist, sollen
geknebelt werden. Nur Tarifverträge von gesetzlich anerkannten Gewerkschaften
haben heute in vielen Staaten sogenannte Rechtsgültigkeit. Abkommen
revolutionärer Organisationen werden dagegen durch Gerichtsurteil ungültig
erklärt. So geschieht es tatsächlich in Deutschland, Spanien, Italien, Rußland,
teilweise versuchte man es auch in Schweden und Norwegen, und andere Länder sind
auf dem Wege zu demselben Ziele.
Und doch bedeutet der Abschluß von Kollektivverträgen in der Geschichte der
Arbeiterbewegung einen Fortschritt. Es ist nur zu verständlich, daß die
Arbeiter, wenn es ihnen gelungen ist, nach schwerem Kampfe dem Unternehmertum
einige Verbesserungen abzuringen, und ihre Organisation durch den Kampf selbst
viel gelitten hat, ihre Errungenschaften vertraglich festlegen wollen, um die
Unternehmer zur Einhaltung der Verbesserungen zu zwingen. Andererseits wollen
sich auch die Unternehmer den Arbeitern gegenüber in derselben Weise durch
möglichst langfristige Verträge sichern, um während der tariflich festgesetzten
Zeit keinerlei Streiks und Arbeitseinstellungen befürchten zu müssen.
Doch es gibt heute noch Länder, wo die Unternehmer sich weigern,
Kollektivverträge anzuerkennen, und die kämpfenden Arbeiter es als einen Sieg
betrachten, wenn sie ihren Ausbeutern ein Lohnabkommen oder einen Arbeitsvertrag
aufzwingen können. Das ist vielfach in den Balkanländern und auch in Portugal
und Mexiko der Fall, wo das Proletariat nur zu einem geringen Prozentsatz
organisiert ist. Gelingt es den Arbeitern, sich zu organisieren, durch ihre
Organisationen Lohnforderungen zu stellen oder andere Verbesserungen
durchzusetzen und dieselben für eine gewisse Zeit sicherzustellen, dann haben
sie ohne Zweifel einen Fortschritt errungen.
Wie soll nun die Sicherstellung der Errungenschaften erfolgen? In erster Linie
und hauptsächlich durch die Arbeiterorganisation selbst, die sich so
kampfestüchtig als möglich erhalten und ausgestalten muß, um ständig auf der
Wacht zu sein und jeden Gegenangriff der Unternehmer abschlagen zu können. In
zweiter Instanz erst durch Verträge mit dem Unternehmertum, die jedoch möglichst
kurzfristig bemessen sein und dem Arbeiter Handlungsfreiheit lassen müssen.
Man könnte hier den Einwand machen, daß Abkommen und Verträge nur dann von den
Unternehmern eingehalten werden, wenn diese sich dazu gezwungen fühlen oder wenn
die Verträge ihnen zusagen. Aus diesem Grunde sei die ganze Vertragspolitik nur
ein Schein, während die realen Machtverhältnisse im wirtschaftlichen Leben das
Entscheidende seien. Das ist schon richtig. Schließlich ist die gesamte heutige
Rechtsordnung nur eine Fiktion, ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Kräfte.
Bricht die wirtschaftliche Macht des Kapitalismus zusammen, dann fällt mit ihm
auch die gesamte Rechtsordnung; all die vielen Gesetze und Verordnungen über das
Eigentum, seinen Schutz, die Sozialpolitik und das Militärwesen fallen gleich
einem Kartenhaus zusammen. Solange aber die Arbeiter nicht die Kraft haben, den
Kapitalismus zu stürzen, werden sie nicht umhin können, sich auch der fiktiven
kapitalistischen Rechtsordnung zu bedienen und dieselbe ihren Zielen dienstbar
zu machen, soweit es ihnen möglich ist. Aus dem gleichen Grunde sind auch die
revolutionären Gewerkschaftsorganisationen gezwungen, Kollektivverträge und
Lohnabkommen mit den Unternehmern abzuschließen, und es muß immer noch als
vorteilhafter angesehen werden, wenn diese Verträge von den revolutionären
Gewerkschaften als von den reformistischen abgeschlossen werden, weil letztere
die Interessen der Arbeiter allzu leicht aufs Spiel setzen und sie oft genug im
Interesse politischer Parteirücksichten verraten (...).“
Aus „Die Internationale“, Nr. 12/1928, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.):
Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006
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