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Augustin Souchy
Vorwort zu „Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus“
Wir befinden uns am Ausgang einer revolutionären Epoche. Heute werden die
arbeitenden Massen besser einsehen, als sie es vor wenigen Jahren gekonnt haben,
dass die Ideen des Staatssozialismus nicht die Verwirklichung des Strebens nach
Brot und Freiheit bringen. Während wir uns früher meist auf Theorien stützten,
können wir heute bei unserer Kritik der sozialdemokratischen und
bolschewistischen Bewegung auf Tatsachen hinweisen. Niemand kann leugnen, dass
der Sozialismus in diesen beiden Bewegungen seinen Totengräber gefunden hat. Der
Hinweis auf die „soziale“ Republik Deutschlands, in der die Sozialdemokratie zur
Herrschaft gelangte, und auf Russland, wo die Bolschewisten ihren Bankrott
eingestehen und mit vollen Segeln in das Lager des Kapitalismus zurücksteuern,
genügt, um Jedermann die Augen zu öffnen. In Deutschland wie in Russland wurden
Theorien großgezogen, die in anderen Ländern schon längst überholt waren. Das
Glück oder Unglück wollte es, dass gerade in diesen Ländern die politischen
Verhältnisse eine Revolution hervorriefen. Dadurch kamen die rückständigen Ideen
der gesamten sozialistischen Bewegung in die Lage, zuerst Wirklichkeit zu
werden. Es ist daher nur zu erklärlich, dass die Revolutionen in Deutschland und
in Russland nichts Vorbildliches für den Sozialismus leisten konnten.
Russland und Deutschland waren auf politischem Gebiete hinter den Ländern
Westeuropas beträchtlich zurückgeblieben und holten durch die politischen
Umwälzungen nur nach, was England, Frankreich, Amerika schon längst überlebt
haben.
Der autoritäre oder Staatssozialismus ist der letzte Versuch, die Herrschaft und
die Ausbeutung in der menschlichen Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Und gerade
den deutschen Sozialisten war es vorbehalten, dieses Experiment durchzuführen.
Die Deutschen haben, sagt George Sorel in einer seiner Schriften, wie man weiß,
vielerlei von den Anschauungen konserviert, die bei uns aus der Mode gekommen
sind. Man versteht die gegenwärtigen Theorien der deutschen Sozialdemokraten
nur, indem man sich zurückversetzt in das sozialistische Denken Frankreichs ums
Jahr 1860. Nach diesen Ideen soll man den Staat erobern, um die kapitalistische
Produktionsweise aufs Haupt zu schlagen und die Gesellschaft durch die Diktatur
zu erneuern. Die Formel von der Diktatur des Proletariats war das Schlagwort der
jungen Journalisten ums Jahr 1848, die damals in Frankreich ihre Brandartikel
losließen, weshalb sie auch die Schwefelbande genannt wurden. Bei den deutschen
Sozialdemokraten findet man auch heute noch nicht die Unterscheidung zwischen
der absoluten Autorität und dem neuen Prinzip. Die Ideen der Freiheit, der
Gerechtigkeit und der persönlichen Initiative sind in Deutschland noch nicht
eingebürgert.
Mit den Ideen des autoritären Sozialismus scheint es somit unmöglich, der
sozialistischen Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Der Grundfehler der
gesamten marxistischsozialistischen Bewegung ist, dass man sich der alten Formen
der heutigen, bestehenden, zur Schaffung einer neuen Gesellschaft bedienen will.
Das Christentum war so lange eine befreiende Macht, wie es außerhalb des
römischen Staates stand. Als es später zur Staatsreligion erhoben wurde und in
alle Organe der damaligen bestehenden Institutionen eindrang, übte es auch die
Funktionen dieser Institutionen aus, und es hörte auf, das Evangelium der Armen
zu sein.
Andererseits zeigt uns die Geschichte, dass jede neue Lehre, jede neue
gesellschaftliche Erscheinung, die ins Leben trat und sich einen Platz in der
Geschichte eroberte, auch neue Formen schuf. So entstanden die mittelalterlichen
Gilden außerhalb der bestehenden Staatsformen, die Bourgeoisie und der
Kapitalismus organisierten sich in selbständigen Gebilden. Auch der Sozialismus
kann nur frei und unabhängig von allen bestehenden
Staatsorganisationen zur befreienden Macht werden. Die Erklimmung der
Staatszinnen durch die sozialistische Bewegung führt zur Versumpfung.
Die Wiederholung des zentralistischen Prinzips kann nicht zur Befreiung führen.
Der Zentralismus sieht in dem Einzelnen nur ein Werkzeug. Wenn die
sozialistische Bewegung sich der alten zentralistischen Formen des Staates
bedient, kommt der Einzelne, kommen die Gruppen nie auf ihre Rechnung. Die
zentralistische Organisationsform herrscht heute in der Wirtschaft wie in der
Politik, der Kapitalismus und der Staat bedienen sich ihrer. Ohne sie sind beide
nicht aufrechtzuerhalten. Nur bei Abhanden sein der Selbständigkeit und des
Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen lassen sich Beherrschung und Ausbeutung
aufrechterhalten. Die Unterdrückung des Eigenwillens und die Vernichtung der
Selbstständigkeit sind die Voraussetzungen der zentralistischen
Organisationsform.
Der Sozialismus ist die Willensäußerung aller Schaffenden. Er kann nur durch
direktes Eingreifen der Kopf- und Handarbeiter erstehen. Wenn alle an dem freien
Sozialismus mitarbeiten, dann wird notwendigerweise auch der Zentralismus
verschwinden. Wenn jeder Einzelne aktiv Anteil nimmt, wird keine Zentralinstanz
Machtbefugnisse ausüben können: Menschen werden nicht mehr beherrscht, sondern
Dinge verwaltet werden.
Wenn die politische Macht aufgelöst und in ihre Elemente zerlegt wird, sind die
Formen des heutigen Staates und des Kapitalismus nicht mehr haltbar. Sie werden
von innen gesprengt werden durch die Kraft, die aus den Einzelnen quillt, die
sich zur Schöpfung neuer Gesellschaftsformen verbunden haben. Wir kämpfen nur
negativ gegen Staat und Kapitalismus, wenn wir uns gegen die Eingriffe wenden,
die diese Mächte in das Leben der Ausgebeuteten und Beherrschten tun. Durch
diesen negativen Kampf führen wir nicht das Ende der Unterdrückung und den
Anfang eines neuen Lebens herbei. Wenn wir aber daran gehen, aus eigenen Kräften
die neue Gesellschaft aufzubauen, dann werden innerhalb des bestehenden Staates
und im Rahmen der kapitalistischen Welt neue Produktions- und Konsumtionsweisen,
freie politische Beziehungen, höhere gesellschaftliche und kulturelle
Verhältnisse empor ranken und sich wie steigender Efeu über den Ruinen der
heutigen Gesellschaft erheben.
Der Geist des Aufbaues ist zugleich ein zerstörender Geist. Wir anerkennen den
Sinn der Worte Bakunins vom Geist der Zerstörung. Dieser Geist bleibt nicht bei
der negativen Zerstörung stehen, er wirkt weiter, denkt im Niedergang an den
Aufstieg und, indem er die alten Hüllen sprengt, webt er an neuen Netzen von
freien Vereinigungen der Produzenten, der Konsumenten, der Künstler,
Wissenschaftler, Erzieher, die uns alle mit tausend feineren und gröberen,
kleineren und größeren Maschen der Gefühls- und Verstandeswelt umspannen.
Jahrzehntelange Leiden und Erfahrungen haben uns die Gewissheit gebracht, dass
wir durch unsern Aufbau sicherer zur Niederringung der heutigen entwürdigenden
und verelendeten Verhältnisse kommen, als durch die bloße Einstellung auf den
Vernichtungskampf. Die nachfolgenden Blätter sind dem Aufbau gewidmet. Als schon
abgedroschen gilt der Satz: Wer die Jugend hat, hat auch die Zukunft. Neu aber
noch sind in der sozialistischen Ideenwelt die Worte: Wer den Aufbau aufweist,
hat die sozialistische Zukunft für sich. Noch hat man nicht viel auf uns
Syndikalisten gehört. Gerade in Deutschland haben Zentralismus und
Politikantentum in gemäßigten und radikalen Formen das Ohr der großen Masse der
Arbeiterklasse besessen. Die zukünftige sozialistische Entwicklung in
Deutschland hängt davon ab, ob man uns jetzt mehr Beachtung schenkt. Wenn die
aufbauenden Ideengänge des Syndikalismus Eingang finden in die Arbeiterbewegung
Deutschlands, dann wird auch der Sozialismus wieder eine Heimstätte bei uns
finden.
In anderen Ländern hat man schon vor langer Zeit die Bedeutung des
antiautoritären, des freien Sozialismus und des Föderalismus für die
sozialistische Arbeiterbewegung erkannt. In Amerika will die Bewegung der
Industriearbeiter der Welt (I.W.W.) durch direkte Eroberung der Industrien von
den darin beschäftigten Arbeitern unter völliger Außerachtlassung und Negierung
der staatlichen Einrichtungen die neue, sozialistische Gesellschaft ans Leben
bringen. In England haben große Kreise der Hand- und Kopfarbeiter erkannt, dass
den Gewerkschaften auch die Aufgabe der Übernahme der Produktion zufallen müsse
und dass dies in gewissem Maße schon heute geschehen könne, ja geschehen müsse,
wenn die kapitalistische Produktionsweise jemals beseitigt werden solle. Die
Bewegung des Gildensozialismus ist Trägerin dieser Bewegung.
Auch in Schweden bricht sich in letzter Zeit diese Idee mehr und mehr durch. Es
scheint, dass in diesen nordischen Ländern der Vernichtungswille dem
Aufbaugedanken das Feld räumen wird. Die soziale Revolution kann sich vielleicht
dann unter Umständen als ein organischer Prozess entwickeln, der sich an dem
kranken Körper der heutigen Gesellschaft vollzieht. In Frankreich hat man schon
beim Beginn der modernen sozialistischen Bewegung an der Wiege des Syndikalismus
gestanden. Schon vor fast dreißig Jahren hat Fernand Pelloutier seine
„Geschichte der Arbeitsbörsen“ geschrieben und uns darauf aufmerksam gemacht,
dass der Schwerpunkt der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Herd der
sozialen Revolution für jeden Ort in dem Zusammenschluss aller Arbeiter an
demselben Orte ist.
Die Arbeiterbörse ist das Herz jeder sozialen Bewegung. Wenn die Befreiung das
Werk der Arbeiter selbst sein soll, müssen die Arbeiter jedes Ortes diese
Befreiung selbst durchführen. Die Verwirklichung des Satzes der ersten
Arbeiter-Internationale, der auch von Karl Marx anerkannt und ausgesprochen
wurde, ist nur durch die Arbeiterbörsen möglich. Ein Plan zur Organisierung der
Arbeiterbörse ist also gleichzeitig ein Plan für die Durchführung der sozialen
Revolution. Es kommt daher der Idee dieser kleinen Schrift eine tiefgehende
Bedeutung zu. Neben Ratschlägen für den Gegenwartskampf soll sie den Versuch
bilden, einen Anfang zu machen mit den Plänen für den Neuaufbau der Gesellschaft
im Sinne des freiheitlichen Sozialismus. Es ist der erste Versuch dieser Art,
der in Deutschland unternommen wurde. Die syndikalistische Bewegung hat sich
berufen gefühlt, dieses Neuland bei uns zu beackern. Die Berliner Arbeiterbörse
hat sich ernstlich damit beschäftigt, und vorliegende Studien sind eine
Fortsetzung davon. Es wäre zu wünschen, daß diese Anfänge nicht allein stehen.
Mögen die Genossen im ganzen Lande, mögen einsichtige Männer und Frauen aus dem
gesamten sozialistischen Lager zu den hier behandelten Gedanken Stellung nehmen.
Dann werden wir sicher dem Sozialismus viel näher rücken, als wenn sämtliche
Parlamente der Welt voll von Sozialisten und Kommunisten, sowie von Vertretern
der Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften wären.
Die mit dem Glauben ihres Herzens weit weg von diesen Ideen stehen, werden
unerfüllbare Hoffnungen darin erblicken. Aber auch viele mit wollendem Herzen
werden zuviel von unüberwindlichen Hindernissen finden. In die Enge getrieben,
werden sie schließlich auf Russland hinweisen und geltend machen, dass auch die
Bolschewisten anfangs die Flügel ihrer Hoffnungen weit spannten, sie schließlich
doch mehr und mehr einzuziehen gezwungen waren. Solange der Kapitalismus und der
bürgerliche Staat nicht in allen Ländern besiegt ist, wird ein einziges Land,
das sich von ihm zu befreien suchte, wieder zu ihm zurück müssen.
Wir verkennen keineswegs die Schwierigkeiten und das Dilemma. Aber so wie heute
schon die englischen Produktionsgenossenschaften und Gilden als selbständige
Produzentengruppen mit andern Wirtschaftsorganisationen und Unternehmungen im
In- und Auslande in Verbindung treten, so können auch die Arbeiterbörsen eines
Landes untereinander, die Industrieföderationen mit einander im eigenen Lande
und auch mit dem Auslande in Beziehungen treten; wenn es dann draußen auch schon
selbständige Arbeiterbörsen und Produktionsgenossenschaften, sowie Konsumvereine
gibt, mit ihnen, wenn nicht, mit den Körperschaften, die sich vorfinden. Auch
die russischen Konsumgenossenschaften (Centrosojus) treten mit dem Auslande in
Verbindung und sind doch nichts anderes alsVereinigungen der Konsumenten, denen
freilich unter dem bolschewistischen System jede Selbständigkeit genommen wurde.
Aber davon abgesehen, genügt dies, uns von der Möglichkeit des freien
Austausches, der freien Produktion, der freien Beziehungen zwischen den
Arbeitenden eines Landes und schließlich auch aller Länder zu überzeugen. Die
heutige Gesellschaft ist moralisch verfallen. Eine neue bereitet sich vor in
unsern Träumen und in der harten Arbeit unserer sozialistischen Bewegung. Es
gilt Hohes, wagen wir das Mögliche!
A. Souchy.
Aus: Studienkommission der Berliner Arbeiterbörsen: Die Arbeiterbörsen des
Syndikalismus, Berlin 1922
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