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H.W. Gerhard (Gerhard Wartenberg)
Der Anarchosyndikalismus in Deutschland (1932)
Infolge der jahrhundertelangen Hohenzollernherrschaft in Preußen und später in
ganz Deutschland, wodurch nicht nur äußere, staatliche Verhältnisse bestimmt
wurden, sondern auch der ganze Volkscharakter verdorben wurde, ist Deutschland
eines der Länder, in denen der zentralistisch-autoritäre Geist am tiefsten
Wurzel geschlagen hat. Hinzu kommt, daß in anderen europäischen Ländern,
insbesondere in Spanien, Frankreich, England sich schon frühzeitig der
Einheitsstaat mit einer zentralen Regierung bildete, so daß die Volksmassen die
Schäden des Zentralismus am eigenen Leibe spürten und mehr oder weniger einen
gesunden, föderalistisch-freiheitlichen Sinn bewahrten. In Deutschland (ebenso
in Italien), hingegen entwickelten sich mehrere oder viele Kleinstaaten, die mit
ihren Zollschranken in der Zeit des Industrialismus und des Welthandels ein
starkes Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung bildeten. Die natürliche
Folge war das starke Sehnen nach der „nationalen Einheit“, das die bürgerlichen
Revolutionäre des ganzen 19. Jahrhunderts in diesen Ländern beseelte. Diese
Einstellung wirkt noch heute nach, und sicher ist dies eine der Hauptursachen,
warum die Sozialisten Deutschlands fast aller Richtungen auf den staatlichen
Zentralismus schwören.
Weiter entwickelten sich Industrie und Proletariat viel rascher, als der Ausbau
des modernen demokratisch-liberalen Verfassungsstaates erfolgen konnte. Die
Bourgeoisie hatte also bereits zu einer Zeit mit einer starken
proletarisch-revolutionären Bewegung zu rechnen, als sie ihre eigene Herrschaft
gegenüber dem Feudalismus noch gar nicht durchgesetzt hatte. Aus Angst vor dem
"roten Umsturz" warf sich deshalb die deutsche Bourgeoisie etwa um 1870
vollkommen dem Bismarckschen Militärregime in die Arme, verzichtete zugunsten
der Junker auf politische Herrschaft und begnügte sich mit dem wirtschaftlichen
Profit. Der Bismarcksche Staat lastete wie ein Alpdruck fast 50 Jahre auf der
deutschen Arbeiterschaft und veranlaßte die deutsche Arbeiterbewegung
infolgedessen, ihre rein proletarischen, wirtschaftlich-sozialen Kampfaufgaben
zurückzustellen und dafür zunächst den Feudalstaat zu bekämpfen. Diese
politische, eigentlich bürgerlich-demokratische Tätigkeit der Arbeiterbewegung
hatte mehrere äußerst verhängnisvolle Folgen:
erstens ging das Schwergewicht des Kampfes auf die Partei (Sozialdemokratie)
über, wirtschaftliche oder kulturelle Aufgaben wurden vernachlässigt,
zweitens zog die Partei außer den Arbeitern auch mehr und mehr die
kleinbürgerlich-oppositionellen Elemente an und wurde daher selbst
kleinbürgerlich-reformistisch,
drittens prägte sich den Arbeitern die Vorherrschaft der Parteipolitik, der
"Wahlschlachten" usw. derart ein, daß sie den wirklichen sozialrevolutionären
und wirtschaftlichen Kampf darüber fast vergaßen.
Als nun im November 1918 der deutschen Arbeiterschaft die politische Macht in
die Hände fiel, wußte sie damit nichts anderes anzufangen, als eine
Nationalversammlung zu wählen, in der die bürgerlichen Parteien die Mehrheit
hatten. Man begnügte sich mit der politischen Demokratie, zerstörte die Anfänge
des Rätesystems fast völlig und dachte nicht im Traume daran, den Kapitalisten
und Großgrundbesitzern ihre wirtschaftliche Macht durch Enteignung der Betriebe
und Latifundien zu nehmen.
Allerdings - nicht alle Arbeiter waren von bürgerlicher Denkweise durchdrungen.
Unter den Revolutionären nahmen die Syndikalisten, die vor dem Kriege nur eine
kleine Organisation mit einigen Tausend Mitgliedern gewesen waren, einen
ehrenvollen Platz ein. Man kann die organisierten Syndikalisten der
Revolutionsjahre 1919-21 etwa auf 100. 000 annehmen, ihr Einfluß erstreckte sich
aber auf Millionen. Bei verschiedenen Generalstreiks, besonders im Bergbau und
der Schwerindustrie Rheinland-Westfalens, gingen sie führend voran.
Aber die herrschende Sozialdemokratie verstand es, durch gedungene reaktionäre
Söldnerscharen alle Bewegungen des Proletariats niederzuschlagen. Und als nun
Ende 1923 die Währung stabilisiert wurde und sich die Republik festigte, waren
alle wirklich revolutionären Bewegungen in äußerst schwieriger Lage. Lediglich
der Kommunistischen Partei gelang es, sich als Massenpartei zu behaupten, weil
sie entschieden in das parlamentarische Fahrwasser einbog. Alle anderen
revolutionären Bewegungen gingen praktisch zugrunde, und der deutsche Anarcho-
Syndikalismus wurde wieder auf die Rolle der Vorkriegszeit zurückgedrängt.
In den letzten Jahren ging die deutsche Bourgeoisie fast vollständig in das
Lager des Faschismus über und warf die Sozialdemokratie aus der Leitung des
Staates heraus, Ein Widerstand des Proletariats machte sich kaum bemerkbar, weil
durch die ungeheuren Enttäuschungen seit der Revolution, durch die Spaltungen
usw. große Mutlosigkeit Platz gegriffen hatte, die erst wieder etwa seit
Frühjahr 1932 einem gewissen Kampfmut gewichen ist.
Heute gibt es in Deutschland unter den Massenparteien eigentlich überhaupt nur
diktatorisch-zentralistische; die KPD., die mehr und mehr die Rolle der
Vorkriegssozialdemokratie einnimmt, ist offen diktatorisch, ebenso die
Nationalsozialistische Partei, die das Gros des Bürger- und Bauerntums umfaßt.
Und die Mittelparteien, Sozialdemokratie und Katholiken, haben die Errichtung
der Halbdiktatur des Reichskanzlers Brüning widerspruchslos hingenommen und
Brüning zwei Jahre lang gestützt.
Man kann sich im Ausland kaum einen Begriff machen, wie tief der Glaube an die
Allmacht des Staates in der deutschen Arbeiterschaft sitzt. Infolgedessen blickt
alles wie gebannt auf die "Eroberung der politischen Macht". Dies ist
selbstverständlich ein denkbar ungünstiger Boden für die anarchosyndikalistische
Lehre von der direkten Aktion und der sozialen Revolution. Die Anerkennung des
bürgerlichen Staates durch die Sozialdemokratie im November 1918 brachte die
Ersetzung des Sozialismus durch die Sozialpolitik mit sich. Tatsächlich gingen
die deutschen reformistischen ("freien") Gewerkschaften restlos im sozialen
Versicherungswesen, in Tarif-, Schlichtungs- und Arbeitsgerichtssachen auf.
Wirkliche Kämpfe wurden so gut wie gar nicht mehr geführt, immer überließ man
der staatlichen Schlichtungsbehörde die Entscheidung. Staatlicher und
gewerkschaftlicher Apparat verfilzten sich dermaßen, daß eine Trennung fast
unmöglich ist. Wenn die reformistischen Gewerkschaften auf diese Weise ein
praktisches Monopol in der Vertretung der Arbeiter bekamen, so wurden die
revolutionären Verbände völlig entrechtet. Es gehört deshalb heute ein
bedeutendes Maß von revolutionärem Bewußtsein dazu, einem revolutionären
Verbande anzugehören, um so mehr, als die ungeheure Arbeitslosigkeit den
Unternehmern erlaubte, in den Betrieben rücksichtslos mit Revolutionären
aufzuräumen. 80 bis 90% der deutschen anarchosyndikalistischen Organisation, der
Freien Arbeiter Union Deutschlands, sind arbeitslos, sehr viele seit Jahren,
Zu diesen ungünstigen äußeren Umständen kommen innere Schwächen der deutschen
Bewegung, die nicht verschwiegen zu werden brauchen, Erkenntnis ist noch immer
der erste Schritt zur Beseitigung von Fehlern gewesen.
In den Revolutionsjahren litt die Bewegung an geistiger Unklarheit. All die
vielen revolutionären Arbeiter, die ohne jede Erfahrung und Tradition zur
Bewegung stießen, brachten sehr viele unklare Ideen mit, die man noch dazu
oftmals gleich in die Praxis umsetzen wollte, was die Bewegung stark geschädigt
hat. Insbesondere ist hier die Siedlungsidee und die maßlose Übertreibung des
antiautoritären Prinzips zu nennen, was zur Atomisierung führte. 1927 bildete
sich sogar eine "Opposition", die freilich nie irgendeine Bedeutung erlangen
konnte.
In den Jahren seit 1922 etwa schritt dann die Klärung vorwärts. Die IAA, hat
hierzu wesentlich beigetragen durch Übermittlung von ausländischen Erfahrungen.
Besonders auf dem letzten Kongreß der FAUD. in Erfurt 1932 gelangte man zur
Ausarbeitung einer wirklichen taktischen Linie.
Aber diese äußeren und inneren Widerstände haben den Mut und die Tatkraft
unserer Genossen nur gestählt. Wir verfügen auch heute noch in hunderten von
deutschen Orten über Kerne von befähigten und opferwilligen Kämpfern, die
Tausende und Zehntausende von Zeitungen und Broschüren absetzen, die bei
wichtigen Ereignissen Versammlungen abhalten, die auf den Arbeitsnachweisen und
in Versammlungen gegnerischer Organisationen ihren Mann stehen. In manchen
Industrien, wo unsere Genossen über größeren Einfluß verfügen, treten sie bei
Streiks und anderen Kämpfen führend hervor. Die Bewegung ist in der Lage, eine
Wochenzeitung "Der Syndikalist", eine alle zwei Wochen erscheinende
Arbeitslosenzeitung "Der Arbeitslose" und ein theoretisches Monatsorgan "Die
Internationale" herauszugeben. Ferner ist ihr ein leistungsfähiger Verlag mit
reichhaltigem Bücherlager angegliedert und eine Büchergilde, die bereits ein
Dutzend Werke freiheitlichen Charakters herausgebracht hat, steht ebenfalls auf
unserem Boden. Die Zahl der örtlichen und Berufsorgane ist groß. In letzter Zeit
wurde sogar ein solches Blatt für Landarbeiter und Kleinbauern geschaffen. Das
nächste Ziel ist, ein Funktionärblatt herauszubringen, um die inneren Fragen der
Bewegung behandeln zu können.
Eng mit der FAUD. arbeitet die Jugendorganisation, die
Syndikalistisch-anarchistische Jugend, zusammen, die ein gedrucktes, allerdings
unregelmäßig erscheinendes Organ herausgibt, "Junge Anarchisten". In neuerer
Zeit hat eine starke Tätigkeit zur Schaffung von Kindergruppen eingesetzt. Auf
diesem Gebiet sind die Erfolge ziemlich groß, es existiert sogar ein monatlich
erscheinendes freiheitliches Kinderblatt "Proletarisches Kinderland". Diese
Kinderbewegung berechtigt zu den besten Hoffnungen, wie ja überhaupt die
Revolutionierung der Erziehungsmethoden in der Zeit seit 1918 der stärkste
Faktor für eine Zersetzung des autoritären Geistes in Deutschland ist.
Bemerkenswert ist schließlich noch der bedeutende Einfluß der
Anarchosyndikalisten in anderen Arbeiterorganisationen sportlicher oder
kultureller Art. Insbesondere ist hier die "Gemeinschaft proletarischer
Freidenker" zu erwähnen, eine überparteiliche, revolutionär-antikirchliche
Organisation mit ca. 15000 Mitgliedern. Selbstverständlich benutzen die
Syndikalisten ihren Einfluß nicht, um andere Richtungen an die Wand zu drücken,
sondern sie haben die Führung an vielen Orten ganz einfach auf Grund ihrer
überwiegenden Arbeit und Aktivität. Ein trübes Kapitel ist leider die
Solidaritätsleistung gegenüber Verfolgten, vor allem wegen der Finanznöte. Es
sind jedoch Bestrebungen vorhanden, einen besonderen Solidaritätsfonds für
derartige Zwecke zu schaffen. Dies wird um so notwendiger sein, als gerade jetzt
die Verfolgungen gegen die revolutionäre Bewegung stark zunehmen.
Ausnahmegerichte, faschistische Überfälle, Verbote der Zeitungen,
Beschlagnahmen, Versammlungsverbote, Verhaftungen und andere Schikanen hageln
nur so. Der "Syndikalist" wurde innerhalb eines Jahres dreimal verboten, die
"Internationale" einmal. Viele unserer Genossen sitzen im Gefängnis, mehrere
davon sind mit langjährigen Zuchthausstrafen bedroht. Dies zeigt, daß unsere
deutsche Organisation, trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche, eine außergewöhnliche
Aktivität entwickelt und von der Reaktion danach behandelt wird.
Es ist zu hoffen, daß das deutsche Proletariat die derzeit herrschende Reaktion
bald überwindet und daß damit auch die Bahn für eine neue Entwicklung der FAUD.
frei wird. Sicher wird das nicht ohne schwere Kämpfe abgehen, in denen die
deutschen Anarchosyndikalisten an ihrem Platze zu finden sein werden. Ob sich
dies sofort in organisatorischen Erfolgen auswirken wird, wissen wir nicht. Auf
jeden Fall aber sind die deutschen Anarchosyndikalisten mit eiserner
Entschlossenheit am Werke, ihrer Idee diejenige Stellung im deutschen
Proletariat zu schaffen, die ihr gebührt und der IAA. in Deutschland, dem
ehemaligen Bollwerk der Wilhelminischen Autorität, eine Sektion zu geben, die
des großen Beispiels anderer Länder würdig ist.
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