Home
Suche
auf Syfo
/Search Syfo Pages
Other Languages/
Otras Lenguas
Kontakt
Impressum
| |
Helge Döhring: Rezensionen zu literarischen
Veröffentlichungen
Wolfgang A. Nacken: „auf' m flur"
Die Flamme der Liebe und des Aufstandes
Der Verrat von Mile End
Füchse der Ramblas
Oliver Steinke: Der Verrat von Mile End,
Historischer Roman
Verlag Edition AV, ISBN
978-3-936049-18-3, 194 Seiten - 14 €
"Aber schließlich waren wir nicht hier, um von der neuen Welt nur zu träumen.
Sie würde nicht von alleine kommen.“
Binnen nur eines Jahres liegt 2004 der schon zweite historische Roman von Oliver
Steinke vor. Nach „Die Flamme der Liebe und des Aufstandes“, einem Roman über
die Machno Bewegung in der Ukraine Anfang der zwanziger Jahre des 20.
Jahrhundert widmet sich der Autor im vorliegenden Band dem größten
Bauernaufstand des Mittelalters in England im Jahre 1381. Begünstigt vom
außenpolitischen Kräfteverschleiß der Krone im Hundertjährigen Krieg gegen
Frankreich (1338 – 1453) und drangsaliert durch eine Unmenge gesetzlicher
Beschränkungen (u.a. Jagdverbot und Steuern) erheben sich unter Einfluß der
Lehren Wycliffs und John Balls Tausende Bauern und einige Städte (Handwerker)
gegen die Herrschaft des mittleren Adels und die Geistlichkeit unter der
Fragestellung „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann ?“.
Wycliff übersetzte als erster die lateinische Bibel ins Englische, der Sprache
des gemeinen Volkes, um das Deutungsmonopol der Geistlichkeit zu brechen und
erzielte damit ebensolche Wirkung, wie später auch Martin Luther in Deutschland.
Die Bibel sei nämlich auch anders zu deuten, befanden einige niedere Geistliche,
welche sich zusammenschlossen, um ihre Ansichten zu verbreiten. Diese neue
Auslegung der Bibel kam beim größten Teil der Landbevölkerung gut an, galt die
bisherige Deutung doch als Legitimationsgrundlage für Knechtschaft. Einer dieser
priesterlichen „Renegaten“ war der im Roman dargestellte John Ball, welcher sich
in zahlreichen Predigten für einen radikalen Wandel der gesellschaftlichen
Verhältnisse aussprach. Künftig sollen die Priester dienen und nicht herrschen.
In England solle es fortan keine Hörigen mehr geben. Weiter im Programm standen
freier Handel, Bewegungsfreiheit, freie heirat, Aufhebung der Steuern und
Abgaben an Institutionen außerhalb der Gemeinden, die Rückgabe von Ländereien
von den Kirchen an die Bevölkerung, Aufhebung der Ständegesellschaft. Im besten
Falle wurde eine Macht von unten jenseits weltlicher und geistlicher Herrschaft
angestrebt: „Niemand gibt ihnen (Bischöfen und Priestern) und den weltlichen
Mächtigen das Recht, sich über andere zu stellen. Denn am Anfang der Tage schuf
Gott die Menschen als eine Gemeinde. Alle Menschen waren gleich, alle
arbeiteten, niemand stand über einem anderen.“ Ball betonte: „Die Kirche ist zu
einem Werkzeug von räuberischen Betrügern geworden, die den Namen des Herren für
ihre eigenen Zwecke missbrauchen.“ Stattdessen müsse eine Gesellschaft
dezentralisiert, alle Macht in den Gemeinden liegen, deren Leben durch
gegenseitige Hilfe gekennzeichnet sein sollte. Doch überwiegt der glaube an
einen gerechten König und einem einzigen Bischof für England, denen Vertrauen
geschenkt werden würde.
Glaubens- und Klassenkampf vermischen sich hier zur Motivation, sich zu erheben.
Statt im Krieg gegen Frankreich gegen einfache Bauern kämpfen zu müssen, zogen
es viele Englische Bauern vor, sich gegen den Klassenfeind im eigenen Land zu
erheben. Den Auslöser dafür gab die Erhöhung der Kopfsteuer, um den weiteren
Krieg zu finanzieren. Exemplarisch stellt Steinke folgende Meinung hierzu
heraus: „Die Adligen sollten sich mit dem begnügen, was sie geplündert haben und
sich lieber untereinander aufspießen und abschlachten, anstatt unschuldige
Frauen und Kinder zu töten und ganze Landstriche zu verwüsten. Und der Krieg
zerstört nicht nur Frankreichs Dörfer, denn um ihn zu bezahlen, werden auch wir
hier in England ausgeplündert.“
Der Aufstand erreicht nach Brentwood, Maidstone und Canterbury auch London. Das
Bauernheer erreichte eine zeitweilige Stärke von etwa 8.000 Mann, während die
königlichen Heerscharen im Krieg gegen Frankreich gebunden waren. Aufgehalten
wurden die Aufständischen schließlich nur von ihrem Misstrauen in die eigene
Kraft, einem Phänomen, welches bis heute durch die Weltgeschichte hindurch
leider uneingeschränkte Gültigkeit besitzt. Anstelle des Monarchen trat später
im Allgemeinen eine Partei oder eine Nationalbewegung. Auch in England wurde das
Vertrauen in den König von England den Aufständischen zum Verhängnis, da ihr
Anführer, Wat Tyler, zu „Verhandlungen“ in einen Hinterhalt gelockt und getötet
wurde: „(...) ohne diese Narrheit, dem König zu vertrauen, hätten wir bereits
heute gewonnen.“ Diese Einsicht kam hier wie so oft in der Geschichte zu spät.
Das riesige Bauernheer wurde ohne ihren charismatischen und kühnen Anführer von
den königlichen Truppen geschlagen und im Nachsetzen vollständig aufgerieben.
Die Grundintentionen Machiavellis sind historische Klassiker bis heute und
kommen im Roman in Abgewandelter Form folgendermaßen zum Ausdruck, wenn die
Herrscher ausführen: „Papier ist geduldig, gaben wir ihnen doch, was sie
verlangen, ganz gleich, was es ist. Denn wir müssen unter allen Umständen
erreichen, dass sich ihre Haufen zerstreuen, die Bauern die Stadt (London)
verlassen und in ihre Dörfer und Städte zurückkehren. Niemand wird später mehr
danach fragen, ob wir falsche Versprechungen gemacht haben oder nicht, niemand
wird mehr nach dem Warum fragen, wenn die Köpfe ihrer Anführer erst an der
Towerbridge aufgespießt sind.“ Eine Grundaufgabe von Geschichte ist es auch,
Grundmechanismen- und Prinzipien herauszufiltern, um in künftigen Kämpfen Fehler
zu vermeiden und besser handlungsfähig zu sein. Dieser Roman leistet hierzu
einen eindrucksvollen Beitrag. Die Königsklasse lernte aus der allgemeinen
Geschichte und nutzte geschickt die Gutgläubigkeit der meisten Bauern aus, der
Großteil der Aufständischen aller Länder lernte dagegen nicht aus der
Geschichte, sondern ließ sich stets aufs neue übertölpeln, wie 1525 in
Frankenhausen (Deutscher Bauernkrieg), 1849 in Berlin (Vertreter der
Nationalversammlung niederkartätscht), 1920 im Ruhrgebiet („Bielefelder
Abkommen“) oder auch, der Aktualität halber erwähnt bei jedem beliebigen Uni-
Streik. Dasselbe gilt für die Erörterung der gesellschaftlichen
Klassenverhältnisse, in welchen sich zu den polarisierten Frontparteien auch
immer eine Mittelschicht (Bourgeoisie) herausgebildet hatte. Wie Steinke ein
zweites Grundprinzip aller Geschichte ganz richtig schildert, bildete sich in
urbanisierten Gebieten eine Schicht aus Handwerkern und Handelstreibenden
heraus, welche vor allem ganz eigene ökonomische Interessen entwickelte. Zur
Durchsetzung ihrer Interessen schlossen sie wahlweise Bündnisse mit den
Arbeitern/ Bauern oder auch mit dem Adel/ Klerus: „(...) die Kaufleute wollen
die Handelshoheit über Canterbury, sie wollen der Einfluss der Kirche Brechen.
Und ei sind natürlich nicht zu uns (den Aufständischen) gekommen, weil Gott zu
ihnen gesprochen hat, sondern weil wir ein gewaltiges Heer anführen (...) jeder
weiß, diese betuchten Bürger, die Ratsherren, die Wollhändler, sie sind nur auf
ihren eigenen Vorteil bedacht. Heute schmeicheln sie uns (den Aufständischen),
morgen wieder dem königlichen Schatzmeister (...)“ Auch hier ließen sich die
gleichen Beispiele anführen wie oben genannt (deutscher Bauernkrieg,
Revolutionen von 1848 und 1919/20). Die Botschaft dieses Romans lautet
unmissverständlich, dass bei einer Revolution der Sack auch zugemacht werden muß,
denn „ich wusste, die Herren machten Zugeständnisse nur dann, wenn sie
eigentlich schon verloren hatten.“
Wie in seinem ersten Roman entmystifiziert Steinke auch hier Ereignisse, wie
Schlachten und „Helden“, indem er die Protagonisten als einfache Menschen
schildert, mit Todesmut aber auch mit Ängsten und Fehlern. Heldenmythen
entstehen vielmehr durch eine tradierte Mischung aus Sensationslust und
Aberglauben, als durch tatsachengetreue Widergabe von Begebenheiten. Steinke
lässt auch hier die Frauen nicht im Dunkeln der Geschichte verkümmern, sondern
sie sowohl als liebende, als auch als kämpfende Subjekte an den Geschehnissen
teilhaben. Kampf- und Liebesgeschehen gehen hierbei eine packende Symbiose ein.
Insgesamt setzt sich der Roman aus sieben verschiedenen Ich- ErzählerInnen in 36
Kapiteln zusammen. Geschildert wird somit aus unterschiedlicher Sichtweise,
sowohl Männer/ Frauen, Herrscher/ Aufständische kommen zu Wort. Wieder erfreut
uns Steinke mit einer zügigen Abfolge kurzer Kapitel, welche dem Roman jede
Langatmigkeit von vornherein nehmen. Was Steinke hingegen nicht gelingt, ist die
für einen historischen Roman notwendige Entwicklung psychologischer
Tiefenschärfe. Die Darstellung und Entwicklung von Charakteren bleibt
diesbezüglich bestenfalls angedeutet, aber generell eher an der Oberfläche. Die
Kapitel wirken mehr ereignisorientiert, so dass wir nicht erfahren, wodurch z.B.
die Gutgläubigkeit des Helden Wat Tyler und damit die Niederschlagung des
Aufstandes eigentlich bedingt war. Tyler lässt sich in einen Hinterhalt locken,
doch wir erfahren nichts über den sozial-psychologischen Hintergrund dieser
folgenschwersten Entscheidung des gesamten Englischen Mittelalters aus
aufständischer Sicht. Aufgabe einer solchen Romankategorie ist es jedoch, eben
diese hintergründigen Komponenten zu erörtern, wie es so unterschiedlichen
Schriftstellern wie z.B. die Gebrüder Mann, Karl Phillip Moritz, Hermann Hesse
oder auch Gottfried Keller in ihren historischen/psychologischen Romanen
gelungen ist. Dementsprechend umfangreich gestalten sich solche Werke dieser
anspruchsvollen Kategorie bis auf wenige Ausnahmen dann auch.
Trotz dieses Defizits möchte ich diese Buch jedem/r ans Herz legen – es lässt an
Spannung nichts zu wünschen übrig.
„Seht in die Gesichter der Gemeinen, wenn ihr in eine Stadt reitet, in welche
auch immer und ihr werdet mich sehen. Ich lebe in jeden einfachen Menschen fort,
schließlich könnt ihr uns nicht alle ausrotten.“ (John Ball vor Gericht zur
Verkündung der Todesstrafe über ihn)
Helge Döhring in Direkte Aktion, Nr. 165, November/Dezember 2004
| |
Seit_2007
Since 2007
|